44. Hirntumor-Informationstag am 4. Mai 2019 in Berlin
Debatte: Pro und Kontra Off-Label-UseInformationen zum Thema(aus dem Tagungsmaterial der Deutschen Hirntumorhilfe e.V.)
Was ist Off-Label-Use?Von Off-Label-Use spricht man, wenn Medikamente außerhalb des ursprünglichen Anwendungsgebietes eingesetzt werden. Es sind Medikamente, die man normalerweise nicht für die Behandlung von Hirntumoren verwenden würde.
In der Regel ist eine spezielle Behandlung als Standardtherapie für eine bestimmte Erkrankung verfügbar und erfolgreich erprobt. Kann die Erkrankung mit dem zugelassenen Medikament nicht ausreichend therapiert werden, wird untersucht, ob eine Kombination der Standardbehandlung mit einer weiteren Substanz einen Vorteil für den Patienten bringt.
Wann werden Medikamente off-label eingesetzt?Off-Label-Use kommt infrage, wenn
- es für eine Erkrankung kein zugelassenes Medikament gibt
- die zugelassenen Wirkstoffe ausgeschöpft sind
- die zugelassenen Wirkstoffe nebenwirkungsreicher sind
- durch die ergänzende Gabe von Substanzen ggf. eine Verbesserung des Behandlungsergebnisses erreicht werden kann
Welche Medikamente können off-label eingesetzt werden?Die Grundlage der Auswahl eines Medikaments für den Off-Label-Einsatz ist stets eine sogenannte Rationale oder Plausibilität. Die ist gegeben, wenn beispielsweise anhand einer Phase-III-Studie bereits abzusehen ist, dass es zur baldigen Zulassung einer überlegenen Therapiekombination kommt.
Aber auch positive Ergebnisse aus Phase-I- oder Phase-II-Studien, anderweitigen Untersuchungen (z.B. statistischen Erhebungen) oder Erkenntnisse aus Versuchen in Zellkulturen können Therapieerfolge vermuten lassen und als Argumentationsgrundlage für einen Off-Label-Use dienen.
Von einer umfassenden klinischen Untersuchung der Wirksamkeit bis zur Zulassung von neuen Therapien und Therapiekombinationen vergehen oft über 10 Jahre. Für Patienten stellt sich die Frage, ob die vielversprechenden Medikamente schon eher eingesetzt werden können, auch wenn eine Wirksamkeit noch nicht wissenschaftlich mit einer entsprechenden Beweiskraft erforscht ist.
Beispiele für Off-Label-Use1. CCNU plus Temozolomid
Nach der Zulassung des Zytostatikums Temozolomid für die Erstlinientherapie des Glioblastoms im Jahr 2005 (Stupp) wurden verschiedene Kombinationen mit zusätzlichen Substanzen und Medikamenten in klinischen Studien getestet, um die Standardtherapie zu verbessern, auch der Nitroseharnstoff Lomustin (CCNU). Die Ergebnisse einer Phase-I-Studie weisen auf eine bessere Wirksamkeit der Kombination hin. Daraufhin wurde eine Studie (NOA-09) konzipiert, die die Kombination bei Glioblastompatienten mit einem bestimmten Merkmal im Tumorgewebe (MGMT) untersuchte. Die Untersuchung zeigte einen eindeutigen Vorteil für die Kombinationstherapie. In Kürze wird eine Veröffentlichung der Ergebnisse erwartet.
2. Metformin
(aus: Ärzte Zeitung online, 29.08.18, Antidiabetikum gibt Gliompatienten etwas Hoffnung
Quelle:
https://www.ärztezeitung.de/medizin/krankheiten/krebs/zns-tumoren_hirntumor/article/970346/metformin-antidiabetikum-gibt-gliompatienten-etwas-hoffnung.html)
Bei der Analyse von Registerdaten aus Bayern fiel auf, dass Patienten mit Typ-2-Diabetes und Metformintherapie seltener an Krebs starben. Die antitumorale Wirkung von Metformin war zudem aus Versuchen an Zellkulturen belegt. Daraufhin wurde untersucht, ob es unter Gliompatienten, die unter Diabetes litten und mit Metformin behandelt wurden, Hinweise auf eine Wirksamkeit des Metformins auf die Tumorerkrankung gab. Die Metforminbehandlung war bei bestimmten Hirntumorarten mit einer signifikant höheren Überlebenswahrscheinlichkeit verbunden.Dies veranlasste, die Wirkung der Metformingabe in Kombination mit der Standardbehandlung des Glioblastoms in einer Phase-II-Studie seit 2017 zu untersuchen.
3.Chloroquin
(aus: Ärzte Zeitung online, 29.08.18, Malariamedikament half Hirntumorpatientin
Quelle:
https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/krebs/forschung/medizinischer-gluecksgriff-die- chemo-wirkte-nicht-mehr-malaria-medikament-half-26-jaehriger-hirntumorpatientin_id_6518089.html)
Vom Antimalariawirkstoff Chloroquin kannte man die antitumorale Wirkung aus Zellkulturen. Chloroquin wurde daraufhin 2005 in einer Phase-I-Studie (Soleto) zusätzlich zur Standardtherapie verabreicht. Ohne dass bei den Patienten unter der Chloroquintherapie schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten wären, war die Überlebenszeit in dieser Gruppe wesentlich besser. Dies führte in der Folgezeit zum Einsatz von Chloroquin in verschiedenen Studien. Seit 2015 rekrutiert eine Studie in den Niederlanden zur Behandlung des Glioblastoms, bei der Chloroquin zusätzlich verabreicht wird.
4. Disulfiram
(aus: Ärzteblatt.de, 11.12.17: Alkoholismus-Medikament greift Krebszellen an
Quelle:
https://www.ärzteblatt.de/nachrichten/86948/Disulfiram-Wie-ein-Alkoholismus-Medikament-Krebszellen-angreift)
Disulfiram, das als „Antabus“ seit Jahrzehnten zur Unterstützung der Abstinenz bei Alkoholabhängigkeit angewendet wird, könnte auch bei Krebserkrankungen wirksam sein. Erste Berichte über Krebspatienten, die unter der Behandlung einer gleichzeitigen Alkoholabhängigkeit mit Disulfiram genesen sind, wurden laut Medline bereits in den 1960er Jahren in der medizinischen Literatur veröffentlicht. Eine Analyse des dänischen Krankenregisters ergab, dass Disulfiram-Nutzer seltener als andere Menschen an Brust- oder Prostatakrebs erkranken (European Journal of Cancer Prevention 2014; 23: 225-232). Derzeit werden mehrere klinische Studien zur Behandlung des Glioblastoms mit zusätzlicher Gabe von Disulfiram durchgeführt.
Debatte: Pro und Kontra Off-Label-UseAusgehend davon, dass Hirntumorerkrankungen oft nicht heilbar sind, stimmten die an der Debatte teilnehmenden Ärzte dem Off-Label-Einsatz von vielen, aber nicht allen, Medikamenten zu.
Dies gilt für die Hirntumorpatienten, in denen die Standardtherapie keinen Erfolg mehr erbringt. Der Arzt muss davon überzeugt sein, dass eine Weiterbehandlung mit anderen Substanzen einen Vorteil erbringen könnte. Der Patient muss diese Entscheidung mittragen und mit seinen Wünschen einbezogen werden. Er unterschreibt sein Einverständnis, dass er mit einem nicht zugelassenen Medikament behandelt wird.
Die Ärzte würden diese Patienten auch mit Medikamenten im Off-Label-Use versorgen und dafür auch erhöhte Aufwendungen auf sich nehmen.
Sie unterstützen bei diesbezüglichen Anträgen an die Krankenkasse mit Befunden, die den Vorteil der Off-Label-Use-Medikamente deutlich begründen, oder sie stellen diese Anträge bei Notwendigkeit auch selbst. Wenn es zu lange bis zur Genehmigung dieser Anträge dauert, wird die Behandlung auch bereits vor der Zusage begonnen. Sollte der Antrag dann jedoch von der Krankenkasse abgelehnt werden und ein weiterer Antrag nicht aussichtsreich sein, würde die Finanzierung durch die Krankenhäuser getragen werden.
Letzteres ist bei niedergelassenen Ärzten auch möglich, aber mit mehr Problemen verbunden.
Der Arzt kann trotz der Unterschrift bei vorzeitigem Behandlungsbeginn und späteren Folgeschäden durch die Patienten, deren Angehörige, aber auch von Ärztevereinigungen zur Verantwortung gezogen werden.
Beim Einsatz von Methadon sind die Probleme gravierender:Nahezu alles, was an zusätzlichen Substanzen die Standardtherapie unterstützt bzw. zur besseren Lebensqualität beiträgt, befürworten und verschreiben die Ärzte. Sie beraten die Patienten bezüglich der Wirksamkeit, Schädlichkeit, Nutzlosigkeit, der Nebenwirkungen und der Wechselwirkungen mit der derzeitigen Therapie.
Bei Methadon liegen die Probleme aber anders.
In Zell-Tests wurde festgestellt, dass Methadon in den Tumorzellen ein Wirkverstärker für die Chemotherapie sein kann. Ein Arzt berichtete aus einem Hospiz, dass die Sterbenden, denen Methadon gegeben wurde, länger und besser lebten.
Diese beiden Informationen führten zu vielen Nachfragen nach Methadon bei den Ärzten.
Methadon zählt zu den Betäubungsmitteln (BTM) und diese kann man nicht einfach so empfehlen und schon gar nicht verschreiben, weil es dafür sehr strenge Vorschriften gibt. Andererseits haben Neurochirurgen, Strahlentherapeuten und Onkologen keine praktischen bzw. klinischen Erfahrungen mit Methadon, das beim Drogenentzug und bei der Sterbebegleitung genutzt wird. Nun sollten sie es als Wirkverstärker für die Chemotherapie einsetzen. Sie suchten nach Informationen, die für Hirntumorpatienten zutreffen, um sie entsprechend beraten zu können. Ist Methadon wirksam oder nicht, welche Dosierung gilt unter welchen Bedingungen, welche Nebenwirkungen hat es, passt es zur aktuellen Therapie oder schadet es womöglich, wie sind die Langzeitwirkungen. Für die Tumorbehandlung standen jedoch nur die Zell-Tests zur Verfügung, die auf Menschen nicht übertragbar sind. In den Hospizen wurde es als Schmerzmittel eingesetzt.
Inzwischen gingen Patienten und Angehörige an die Medien und in die hohe Politik, stellten Forderungen. Von vielen Seiten wurden Erfolgsmeldungen übermittelt, die nur schwer überprüfbar waren, da es sich oft um Einzelfälle handelte, wenn auch um mehrere Einzelfälle. Es fehlten die Bedingungen, die Vergleichbarkeit. Misserfolge wurden eher nicht mitgeteilt.
Das ging derart schnell, dass die Ärzte kaum hinterher kamen. Mittlerweile wurden im Internet Dosisempfehlungen, Zusatzmittel und Adressen von Ärzten mitgeteilt, die Methadon verschreiben. Kannten diese Ärzte die Hirntumorpatienten, deren Krankheitsverlauf, die erfolgten Therapien und all das, was man wissen muss, um ein solches Medikament zu verschreiben?
Die betreuenden Ärzte hatten nicht nur den Mehraufwand, sich zu informieren, sie mussten nun bei ihren Patienten auch all die Wirkungen des Methadon mit erfragen und beobachten, eventuell weitere Medikamente gegen die Nebenwirkungen verschreiben.
Die vorliegenden Tests an Zellen im Labor und erfolgreiche Fallbeispiele genügen nicht für die ärztlichen Begründungen, die die Krankenkassen benötigen, um BTM-Rezepte für Methadon zu akzeptieren. Da geht es nicht um den als gering beschriebenen Preis dieses Medikaments.
Es handelt sich hier auch nicht um den Off-Label-Use eines Medikaments. Methadon soll gleichzeitig mit der Standardtherapie verschrieben werden, ohne zu wissen, wie diese Behandlung wirken wird. Es wird von Patienten verlangt, weil sie davon ausgehen, dass bei ihnen mit Methadon die Chemotherapie besser wirken wird. Mitunter wurden Patienten von Bekannten unter Druck gesetzt, Methadon zur Chemotherapie zu nehmen, ihnen wurde ein schlechtes Gewissen gemacht, sie würden nicht genug tun. Ärzten wurde unterstellt, sie würden sich nicht für ihre Patienten interessieren, nicht genug für sie tun.
Wenn aber Ärzte Medikamente einsetzen, die nicht für die Krankheit zugelassen sind, müssen sie das äußerst sorgfältig mit dem Patienten besprechen. Wenn es noch keine geprüften Nachweise für die Wirkungen, Nebenwirkungen, Ausschlusskrankheiten, Dosierungsempfehlungen, Wechselwirkungen … gibt, also für alles, was im Beipackzettel eines Medikaments steht, das die 3 bzw. 4 Phasen der Studien für seine Zulassung durchlaufen hat, dann muss das der Arzt herausfinden. Er muss den Patienten sehr viel gründlicher begleiten, häufiger einbestellen, sich intensiver um ihn kümmern. Diese Zeit fehlt eigentlich für seine anderen Patienten.
Hinzu kommt aber Gravierenderes: Wenn es zu Folgeschäden kommt, werden diese unter Umständen nicht von der Klinik, dem Arzt, der Pharmafirma getragen. Der Patient unterschreibt zwar, dass er das Medikament bekommt, ohne dass es zugelassen ist und es auch nicht im Rahmen einer Studie verabreicht wird. Dennoch kann es womöglich zu heftigen Regressforderungen an Ärzte kommen, insbesondere an niedergelassene Ärzte. Das muss nicht einmal durch die betroffenen Patienten oder deren Angehörige geschehen, die die Gültigkeit der Patientenunterschrift im Nachhinein anzweifeln und vor Gericht gehen. Auch die Ärztevereinigungen haben das Recht (und die Pflicht?), derartigen Fälle einer Verabreichung von Medikamenten, die zu einem Schaden geführt haben, sehr gründlich und auch vor Gericht auf den Grund zu gehen. Der Arzt kann seine Approbation verlieren.
Forderungen nach klinischen Studien wurden immer häufiger gestellt. Das wäre der richtige Weg. Jedoch ist es unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht leicht, geeignete Patienten für diese Studien zu finden. Alle Patienten, die bereits Methadon nehmen, stehen für diese Studien nicht mehr zur Verfügung. Und über die Zell-Test-Phase ist man auch in Forscherkreisen noch kaum hinausgekommen.
(Das, was ich hier zum Thema „Methadon“ schrieb, stammt zum Teil aus der „Debatte: Pro und Kontra Off-Label-Use“. Ich habe aber auch viele Informationen genutzt, die sich im Laufe der Zeit bei mir angesammelt haben, seitdem „Methadon“ in den Internet-Foren und Medien sehr oft bestimmend auftauchte und teilweise zu gegensätzlichen und leider verhärteten Meinungen führte. Auch in die Veranstaltungen der Deutschen Hirntumorhilfe e.V. wurde „Methadon“als Thema mit aufgenommen.
Ich verstehe jeden Patienten und Angehörigen, der die tödlich verlaufende Hirntumorerkrankung mit allen Mitteln aufhalten möchte und nach jedem „Strohhalm“ greift.
Ich verstehe aber auch die Ärzte, die allen Patienten helfen wollen und dies nicht tun können, wenn sie sich nicht auf sichere Medikamente verlassen können.
Ich hoffe, dass es mir bei aller Subjektivität gelungen ist, sachlich zu bleiben.)
KaSy (kursiv gedruckte Textteile von KaSy)