Liebe Pia,
ich fürchte, wir reden aneinander vorbei. Ich gehe davon aus, dass wir in einem Hirntumorforum schreiben. Außer einem Hirntumor kann man auch andere Krankheiten haben und man kann andere Krankheiten als Hirntumor- oder Hirntumortherapiefolgen haben. Hier geht es vorrangig um Hirntumoren.
Ich hatte bei allen meinen sechs Meningeomen keine Symptome. Das erste habe ich dadurch bemerkt, dass es eine größer werdende Beule auf der Stirn gab, die ich nicht deuten konnte. Meine Hausärztin schickte mich zum Röntgen und auch dieser Radiologe erkannte nicht, dass es ein bereits großer Tumor war, er schickte mich nach Hause und ich vergaß es. 18 Monate später wunderte ich mich darüber, dass ich oben auf meinem Kopf einen Schmerz verspürte, als ich da dran kam. Es war, als hätte ich mich dort gestoßen und ich hätte einen blauen Fleck, so beschrieb ich es meiner Hausärztin. Sie erfasste den Zusammenhang, schickte mich zum CT, sie erhielt den Befund, rief mich sogar auf der Arbeit an und ließ mir übermitteln, dass ich "noch heute" zu ihr kommen solle. Sie sagte, "Setzen Sie sich erstmal hin" und erklärte mir die vermutliche Diagnose. Sie vereinbarte den Neurochirurgie-Termin für mich.
Wie gesagt, ich hatte keine Symptome, aber als ich zwei Monate später den OP-Termin hatte, fragte ich auch dort noch einmal, was denn wäre, wenn man nicht operieren würde. Die Auskunft war eindeutig, wenn man operiert, kann man durch die OP sterben, wenn man nicht operiert, kann man durch das wachsende und das Hirn verdrängende Meningeom sterben.
Auch bei all den anderen 5 Meningeomen hatte ich keine Symptome und doch wäre ich längst tot (oder "Hirn-Matsch"), wenn ich die Therapien nicht zugelassen hätte.
Insofern finde ich es durchaus richtig, bei (m)einem Hirntumor, wenn man nicht über eine Therapie beraten und sie durchgeführt hätte, von einem drohenden Tod zu reden, selbst wenn es sich "nur" um ein benignes ("gutartiges") Meningeom handelt.
Meine Meningeome waren es nicht, sie waren atypisch und meist anaplastisch (WHO-Grade II und III) und ich hatte keine Symptome. Mir drohte wiederholt der Tod.
Du schreibst, dass sich der Arzt auf Dich als Mensch einlassen muss. Ja, natürlich "muss" er das. Ich kenne Dich nicht und ich weiß nicht wie Du mit Ärzten redest, wenn es um dramatische Diagnosen geht. Wie ich es tue, habe ich Dir beschrieben. Der Arzt kann sich doch nur auf mich als Mensch einlassen, wenn ich ihm die Möglichkeit dazu gebe. Er kann mich fragen, wie mein Leben ist usw. Wenn er es nicht tut, dann muss ich es ihm erzählen, wenn ich möchte, dass er mich versteht, wenn ich möchte, dass er weiß, was an meiner Lebensqualität mir wichtig ist. Ich möchte doch etwas vom Arzt. Er schlägt mir Behandlungen vor. Aber er "erwartet" von mir nicht, dass ich ihm "folge".
Und schon gar nicht "erwartet" der überweisende Arzt, dass man sich in einem MRT untersuchen lässt, um eine vermutete Diagnose zu sichern. Das muss man als Patient nicht über sich ergehen lassen, wenn man das nicht mag. Man kann es auch lassen. Aber Hirntumoren kann man nun einmal nur in einem MRT feststellen und ihren Verlauf in weiteren MRTs überwachen. Man muss das Kontrastmittel (KM) nicht akzeptieren, wenn man denkt, dass es den Sehnerv schädigen kann oder Metallablagerungen im Hirn verursacht. Aber wenn man wegen eines Hirntumors zu einem Neurochirurgen geht, dann möchte man doch, dass er einen in Bezug auf Therapiemöglichkeiten berät. Und ohne ein MRT mit KM kann der Neurochirurg einen nur ziemlich schlecht beraten. Operieren geht dann, falls der Patient dem zustimmt, nur mit maximalem Risiko. Also mit tödlichem Risiko. So wie im Mittelalter. Verblüffenderweise sind die vor 2000 bis 1000 Jahren erfundenen "OP-Bestecke" den heutigen sehr ähnlich. Jede OP ist auch heute ein Risiko, verringert durch immer besser und schmerzärmer werdende Voruntersuchungsmethoden und technische Hilfen während der OP.
Diese Zeiten sind dank der Erfindung des Röntgen, des CT, des MRT und weiterer bahnbrechender Erfindungen, mit denen man berührungslos in den Körper schauen kann, zum Glück vorbei. Und doch ist immer noch jede Therapie eines Hirntumors ein Risiko, für das Leben, aber gerade bei Meningeomen für die lebenslangen Folgen danach.
Natürlich muss der Arzt Dir die Diagnose und seine Verordnung erklären. Wobei es bei Hirntumoren nicht um Verordnungen geht, sondern um Therapiearten oder Abwarten. Aber er kann sich überhaupt nicht einseitig und nur von sich aus "vergewissern, ob es keine Gründe gegen seine Empfehlung gibt". Jeder Mensch ist ein Individuum mit ganz persönlichen Eigenheiten, einem speziellen Leben, Vorerkrankungen, Familie, Beruf und vielem mehr. Er kann nicht durch hunderte Varianten durchraten. Das muss in einem Gespräch erfolgen. Er wird nach üblichen Gegendiagnosen fragen wie Allergien, Herz-Kreislauf, Diabetes, Blutdruck. Er wird allgemein übliche und konkret auf die Tumorlage bezogene Folgen nennen. Sehr viel mehr steht in den umfangreichen Aufklärungsbögen. Aber alles kann auch dort nicht erfasst werden. Spezielle Sachen muss der Patient, der etwas vom Arzt möchte, von sich aus sagen.
Bei mir z.B. konnten die Neurochirurgen 1995 nicht auf die Idee kommen, dass ich im Alter von 37 Jahren bereits seit 15 Jahren ein Glaukom habe, das muss ich von mir aus mitteilen. Dass ich auf einem Auge nichts mehr sehe, konnten sie 2016 bei der Therapieplanung nicht wissen, das musste ich ihnen sagen, denn es ging um ein Meningeom an dem sehenden Auge. Hätte ich es ihnen nicht gesagt, hätten sie das Meningeom vollständig entfernt und das Risiko der Erblindung auf beiden Augen wäre gegeben gewesen. Kein Arzt sieht oder merkt mir an, dass ich durch die ersten Hirntumortherapien psychisch labil geworden bin. Das glaubt man mir nur, wenn man es unmittelbar erlebt. Das muss ich ihnen mitteilen und ich muss von mir aus um psychischen Beistand bitten. Da ich das weiß, sage ich es lieber gleich und warte nicht erst darauf, dass irgendjemand mitbekommt, dass ich aggressiv ausraste und womöglich irgendwen anbrülle oder etwas durch die Gegend schmeiße. Das vermeide ich lieber vorher.
Und so hat jeder irgendwelche ganz speziellen Sachen, die der Neurochirurg nicht erahnen kann.
Versuche doch bitte einmal, Dich in einen Neurochirurgen hineinzuversetzen, der einen Patienten das erste Mal in seiner Sprechstunden sieht. Er kennt nichts von ihm, außer dem MRT-Bild mit dem Hirntumor, den er therapieren soll, deswegen ist der Patient da. Er wird alles erklären, was er aus medizinischer Sicht tun kann. Es wird sich ein Gespräch entwickeln.
Und in diesem Gespräch muss der Patient sagen "welche Ziele" er hat und mit welchen "negativen Folgen" der Untersuchung und der Therapie er leben kann.
Und wenn er von der Diagnose zu sehr geschockt ist, dass ihm gerade ganz viel nicht mehr einfällt, dann kann und sollte er seine Fragen, Ziele, Bedenken aufschreiben und in einem weiteren Gespräch stellen, spätestens, also im ungünstigsten Fall unmittelbar in den OP-Vorgesprächen.
(Das Forum hier ist dann auch dafür da.)
Wobei beim Röntgen, einer CT, MRT, PET-CT, PET-MRT als Untersuchungsmethoden die "negativen Folgen" gegenüber den Folgen eines wachsenden Tumors deutlich gegen Null gehen.
Bei den verschiedenen Therapiemöglichkeiten erfährt man die "negativen" Folgen, soweit sie vorhersehbar sind, spätestens aus dem Aufklärungsbogen und in den Gesprächen mit mehrern Fachärzten in der Vorbereitung und unmittelbar vor den Therapien. Dann kann man die Therapie immer noch ablehnen. Und den Tumor wachsen lassen und auf Symptome warten, was nicht unbedingt ratsam ist, weil (je nach Tumorlage) bereits vorhandene Symptome nicht unbedingt durch eine Therapie verschwinden.
Ich schreibe hier übrigens nur von "dramatischen Therapien", die nicht erst dramatisch sind, wenn man auf der Intensivstation (ITS) liegt, sondern bereits durch die Diagnose "dramatisch vorherbestimmt" sind. Deswegen sind die allerersten Gespräche über einen Hirntumor (als eine dramatische Diagnose) immer mit dramatischen Therapien verbunden, die erfolgen können, sofort, später oder nie. Aber es wird im Gespräch mit dem Neurochirurgen immer um eine dramatische Therapie gehen. Das ist dem Neurochirurgen bewusst und dem Patienten auch. Wenn man auf der ITS liegt, ist die Therapie ja bereits erfolgt. Da kann man zwar enttäuscht sein, aber den Arzt wechseln kann man dann gerade nicht. Zu diesem Zeitpunkt müssen die individuellen Gespräche gelaufen sein und nun folgen die konkreten Informationen darüber, welche akuten Probleme kurzfristig, etwas längerfristig, lange zu behandeln sind oder leider dauerhaft bleibend sind und wie man damit umgeht. Auch hier ist der Patient gefragt, er wird zwar in dieser Zeit überwacht, aber jeder hat individuell sehr unterschiedliche Sorgen, Ängste oder ganz normale Empfindungen.
Ich fand die Geräte im OP und in der ITS immer sehr faszinierend. Auch diese gewaltigen CT- und MRT-Geräte waren für mich einfach eine enorm beeindruckende technische Erfindung. Ich lege mich auf diesen Untersuchungstisch und werde in diese Röhre geschoben und nach gar nicht so langer Zeit kommen jede Menge Bilder von meinem Gehirn, ja, meinem Gehirn (!) raus! Und noch viel faszinierender waren für mich die Bestrahlungen in den Linearbeschleunigern. Die Exaktheit der Berechnungen zuvor, wo im Tumor welche Strahlen-Dosis ankommt. Auch da liegt man entspannt auf einer Liege, gucken kann man wegen der Maske leider nicht, aber man merkt auch nichts und weiß doch, dass diese Strahlen die Erbinformation der Tumorzellen zerstören. Ein riesiges Gerät ist das! Und ich habe etwas gesehen, was nur Kosmonauten im All wahrnehmen, dieses blaue Tscherenkow-Licht. Das nimmt mir keiner mehr weg, diese Erfahrungen!
Aber viele andere Patienten nehmen das völlig anders wahr.
Ein Arzt kann das, also diese Vielfalt bei jedem einzelnen Patienten, nicht ahnen, wenn er es im Gespräch nicht erfährt oder erspürt.
Ich weiß nicht, ob ich Dir meine Vorstellungen begreiflich machen konnte. Es ist nicht ganz einfach, über den Umgang zwischen Ärzten und Patient zu "philosophieren", wenn ich kaum weiß, was Dich in Bezug auf Dein Meningeom konkret bewegt. Das ist hier so ein bisschen neu und ungewohnt.
KaSy