Hallo zusammen,
ich schreibe euch allen hier, weil ich mir Trost und Hilfe erhoffe. Bei meinem Freund (21 Jahre alt) wurde vor einigen Wochen bei einer Routinekontrolle (er klagte über Kopfschmerzen und der Arzt hatte ihn nach einem Bluttest zur CT geschickt) ein Ponsgliom festgestellt. Dieses verursacht keine Beschwerden (die Kopfschmerzen kommen von einer verschleppten Erkältung, sagen die Ärzte). Der Tumor sitzt im Stammhirn und ist daher inoperabel, da die Gefahr zu groß sei, daß er bei einer OP schwere Schäden davontragen könnte. Der Tumor entstand wohl schon im Kindesalter. Eine Strahlentherapie ist nach Meinung der Ärzte aus denselben Gründen nicht durchführbar. Im Internet las ich, daß Chemotherapie bei gutartigen Tumoren nicht anschlägt. Die Ärzte in Kirchen (im Westerwald) haben wohl schon aufgegeben, ihn zu behandeln und lassen ihn nur jede Woche zur CT Routineuntersuchung antanzen, seit 3 Wochen bekommt er jedes Mal Beruhigungsmittel, weil er innerlich zu aufgewühlt ist.
Laut Aussage der Ärzte ist der Tumor wohl noch gutartig, es besteht aber eine Chance von 70%, daß er innerhalb von 11 Jahren bösartig wird. Was das heißt, brauche ich hier wohl keinem zu erzählen.
Das war natürlich ein schwerer Schock für uns beide, zumal mein Freund versucht hatte, dies so lange wie möglich vor mir geheim zu halten (ich merkte, etwas war nicht in Ordnung und bohrte nach, er blieb hart und sagte, es wäre nichts, wir haben uns heftig gestritten und dann rückte er zuerst damit raus, daß er "da was im Kopf habe" und dann nach erneutem Streit einige Wochen später, daß "er nur noch 11 Jahre zu leben hätte"). Mit einem Schlag war ich längere Zeit nicht zu gebrauchen. Ich versuchte, ihm Mut zu machen (ich bin die Optimistin in der Beziehung) und daß 70% nicht 100% sind und daß es trotz allem so viele Möglichkeiten der Heilung gebe. Erst nach und nach erkannte ich, wie problematisch das war und daß es sich eben nicht einfach entfernen ließe. Wir mussten uns der Wahrheit stellen, daß aller Warscheinlichkeit nach ein langer Leidensweg bevorstand und daß der Tod von nun an Bestandteil des lebens war, daß wir nicht ignorieren können. Nachdem meine Mutter knapp 1 1/2 Jahre zuvor auch an Krebs gestorben war und wir damals nur einen Tag zum Verabschieden hatten (montags morgens kam sie ins Krankenhaus, Intensivstation, Montags nachmittags besuchte ich sie, da war sie noch wach, Montags abends war sie bereits im künstlichen Koma und genau einen Monat später versagte ihr Herz (Lungenkrebs)), wollte ich die Probleme nicht nochmal erleben, obwohl ich weiß, daß Sterben zum Leben gehört.
Obwohl ich gläubige Christin bin, wunderte ich mich, daß ich mich nicht einmal bei Gedanken wie "Warum ausgerechnet er/wir?" ertappte. Ich versuchte, das alles zu verarbeiten, las im Internet und auch tausendmal hier nach, wie andere Betroffene das ganze sehen und über die Heilungsmöglichkeiten. Außer mir weiß niemand aus der Familie, wie es um ihn steht, und (verständlicherweise) will er auch nicht, daß es seine Familie erfährt. Der Freund meiner Schwester und sie selbst wissen, daß er einen gutartigen Tumor hat, wissen aber nicht, daß er zu hoher Warscheinlichkeit bösartig wird. Kann der Tumor denn wirklich erst behandelt werden, wenn er bösartig geworden ist?
Es macht mir sehr zu schaffen, auch wenn ich mich nicht in seine Lage hineinversetzen kann und enormen Respekt davor habe, wie er damit umzugehen versucht. Mir gelingt das leider nicht so gut, ich muss so oft daran denken, was alles passieren kann und kann mich bei seinem Anblick nur schwer daran gewöhnen, ihn in einem (relativ zur Normallebenszeit) so kurzen Zeitraum hergeben zu müssen. Wenn ich einige Minuten schon darüber nachdenke, verfalle ich in Depressionen. Er sagte mir neulich, daß es ihm genauso gehe und daß er es daher versucht, zu ignorieren. Von dem Wunsch, daß wir an unserem Lebensabend gemeinsam im Park spazieren gehen können, habe ich mich fast komplett verabschiedet. Wir sind im November 2007 3 1/2 Jahre zusammen, haben eine gemeinsame Wohnung und trotz normaler Streitigkeiten (wir sind beide Widder-Dickköpfe) bin ich so froh, daß ich ihn habe. Ich bin mir sicher, daß er genauso denkt und ich bin fest entschlossen, ihm beizustehen.
Oft dachte ich: Ausgerechnet diese Art von Tumor, die man so gut wie garnicht heilen kann. Ich denke oft daran, daß die möglichen Folgen Sprachverlust, Erbrechen, Koma ect so schlimm für ihn sein müssen und daß trotz Chemo, Strahlen. OP ect der Tumor meist wiederkommt. Ich denke daran, auch wenn immerhin laut Aussage der Ärzte eine 30%ige Chance besteht, daß der Tumor nicht bösartig wird innerhalb der nächsten 11 Jahre. Aber was danach? Wie lange danach? Werde ich jeden verdammten Tag damit zubringen, mich an den Tumor in seinem Kopf, die tickende Zeitbombe zu erinnern? Werde ich mir ihn irgendwann nur noch als "Tumor mit Körper" vorstellen? Werde ich und wird er überhaupt damit klarkommen, daß jede Woche beim neuen Routine-CT herauskommen kann, daß der Tumor metastasiert? Der Unterschied zu den anderen Menschen besteht, darüber dachte ich auch nach, ja nur darin, daß wir s i c h e r e r wissen, wann er warscheinlich sterben wird. Eigentlich nichts besonderes, aber warum geht es mir dann so verdammt mies?
Ich weiß auch, daß immerhin 11 Jahre eine lange Zeit sind, die wir noch genießen können und daß es sehr viel schlimmer hätte sein können und daß mir die anderen Menschen, die weniger Zeit haben, leid tun könnten. Aber das tröstet mich nicht wirklich und fühle mich anderen Menschen gegenüber schuldig meiner Gefühle.
Ich weiß, das sind für manche absurde Gedanken, aber ich hab sie nunmal.
Ich weiß genau, wie er im Moment darüber denkt, er verdrängt das ganze und weicht mir aus, wenn ich versuche, mit ihm darüber zu reden, sagt entweder gar nichts und hört nur zu, lenkt ab oder sagt dann ganz offen, daß wir bitte das Thema wechseln sollen. Andererseits will er aber auch mit anderen Ärzten sprechen und sich Therapievorschläge ausarbeiten lassen. Ein Ich von mir will das Ganze genauso verdrängen, aber der überwiegende Teil von mir will sich damit auseinandersetzen, ihm helfen, neue Therapien ect suchen, weil ich trotz allem die Hoffnung habe, den Tumor zu heilen, bevor er bösartig wird. Ich will ihm Zeit lassen, sich darüber klarzuwerden, daß dieser Tumor nunmal da ist und nicht weggeht, indem man ihn verdrängt. Aber ich will auch nicht die Zeit verstreichen lassen und mir nachher Vorwürfe machen, ich habe nicht mehr getan bzw. war nicht energisch genug. Ich denke, er wird noch eine ganze Weile brauchen, bis er und auch ich das einsehen und wir offen darüber reden können und das akzeptieren.. Wir müssen uns ja erstmal klar werden, was das bedeutet, den Leidensweg so am eigenen Leib zu spüren und sehen, was wir tun können bzw. wie ich ihm beistehen kann.
Ich weiß, das mein Freund mich jetzt, in dieser schweren Zeit besonders braucht, und obwohl ich nach und nach erst realisiere, was es bedeutet, mit ihm diesen Weg zu gehen (selbst, wenn wir es uns nicht versprochen hätten), wächst in mir nur der Wunsch, wir beide mögen doch bitte mehr Zeit haben als 11 Jahre. Für uns war bisher klar, daß wir heiraten und Kinder haben werden, doch wir wollten in jedem Fall nichts überstürzen und haben uns Zeit gelassen. Doch dann kommen mir wieder die Gedanken: Wie können wir jemals Kinder haben, wenn die Chance besteht, daß sie mit 7 oder 8 Jahren Halbwaisen sind? Ich weiß, die Chance besteht generell, aber man macht sich das nicht bewusst und es ist auch nicht so akut. Würden sie mich hassen? Würde ich mich selbst hassen? Aber ich will nicht jeden Tag warten, daß er stirbt und kein Leben mehr leben, mich von Depressionen auffressen lassen, aber das ist so so schwer für mich. Trotzdem versuche ich mich aufzuraffen und das Beste draus zu machen. Ich hoffe, daß mir das von Tag zu tag besser gelingt, je mehr ich mich mit der Tatsache abgefunden habe. Mein Freund hingegen ist noch überhaupt nicht soweit. Er wird so depressiv, wenn er daran denkt, ihm wäre es schon jetzt lieber, er würde sterben, statt auf den Tod zu warten (das kann ich verstehen, ich glaube, daß ich sicher genauso Gedanken hätte...). Ich will ihm so gern helfen, hab ihm schon mehrmals angeboten, daß wir das zusammen durchstehen, daß er mit mir reden kann, wenn er will, er sagt, daß er jetzt jemanden braucht, der das mit ihm durchsteht und daß ich die einzige bin, die das nur im Entferntesten verstehen kann.
Ich wollte mir hier nur Luft machen mit meinen Gedanken. Ich denke, es wird noch viel Zeit vergehen und über viele Dinge werd ich später, in einem Monat, einem Jahr oder einem Jahrzehnt anders denken. Aber jetzt ist jetzt und ich bin hier und er ist es auch noch. Ich hoffe, daß dieser Post anderen Leuten hilft, so wie es mir geholfen hat, hier zu lesen und ihn zu verfassen. Ich danke euch für euer Gehör. Vielleicht hat ja einer eine hilfreiche Idee, wie wir damit zurechtkommen oder jemand das gleiche Ponsgliom oder einen guten Arzt, wie auch immer, zur Hand oder kann mir Verhaltensweisen ect empfehlen.... ich brauche einfach einen oder mehrere Ratschläge und ein bischen gutes Zureden.
Liebe Grüße
Anja