HirnTumor-Forum

Autor Thema: Wie es weiter geht (GBM IV)  (Gelesen 20742 mal)

juergen

  • Gast
Wie es weiter geht (GBM IV)
« am: 29. Mai 2005, 21:37:51 »
27.03.2005

Jürgen hat sich im Januar sehr gesträubt zur Biomed zu fahren, warum habe ich bis heute noch nicht rausbekommen. Er ist dann aber doch losgefahren. Die Wochenenden mit ihm waren super schön, es war wie Urlaub. Mein Jürgen war so wie immer. Bei den Telefonaten bemerkte ich manchmal eine Konfusität und ich schob es immer auf die anstrengende Behandlung.
 
Seine Schwester brachte Jürgen zu mir zurück, er machte einen sehr müden Eindruck aber endlich hörte ich sein Lachen hier bei mir wieder. Später erst erzählte sie mir, daß er im Auto mit seinem Handy rumgespielt hat und auf einmal eingeschlafen war, daß er seinen Koffer nicht schließen konnte und Probleme mit den Schuhen hatte. Aber auch sie dachte, es ist die Aufregung nach Hause zu kommen.
 
Nach zwei Wochen Zuhause viel mir auf, daß er den ganzen Tag am PC sitzt, sich aber wenig oder kaum an den Foren beteiligt, es gab Phasen, da war er gar nicht richtig da. Ich schaute ab und zu, was er den ganzen Tag am PC macht, bin nicht richtig dahinter gekommen. Vor ca. 4 Wochen (Ende Februar) merkte ich immer öfter, daß ich ihn nicht erreiche. Er hat sich ein anderes Lachen angewöhnt und als ich ihn darauf ansprach, kam seine große Verzweiflung hervor. Es ging dann noch weiter schleichend, er hat keine Freude mehr zu kochen, schaut nicht mehr nach der Post, er wartet nur daß ich Abends von der Arbeit nach Hause komme. Die 2 Stunden mit mir sind sehr anstrengend für ihn und nach PC, Abendessen und der quasselnden Bruni ist er total erschöpft und schläft vor dem Fernsehn ein.
 
Bei einem Kaffeebesuch saß er am Tisch, sprach kein Wort und schauffelte nur still seinen Kuchen in sich rein, das war vor 3 Wochen. Nein, Augen verschließen brachte mich jetzt nicht mehr weiter. Mit der Biomed Kontakt aufgenommen, ob es vielleicht etwas mit den Tabletten zu tun hat - Nein. MRT-Aufnahmen vorgezogen noch eine Woche warten - PANIK PUR. Jürgen ist immer mehr in seiner Welt, wird konfuser und ich bekomme Kinderküsse. Ich sitze neben ihm, schaue ihn an und weine bloß noch - es ist ganz normal für ihn. Nachts wandert er durch die Wohnung, seht am Fenster, läßt den Wasserhahn laufen oder dreht das Wasser ab. Ich stehe auf, fange ihn wieder ein. Ganz vorsichtig, nur nicht erschrecken. Er hat Schwierigkeiten beim Schuhe anziehen und ist wackelig auf den Beinen.
 
Entsetzen, was mach ich jetzt bloß. Er ist den ganzen Tag alleine - ich bin bei der Arbeit - so kann das nicht gehen. Will erst mal die Bilder abwarten und dann muß ich eben kündigen, die Zeit ist so kostbar.
 
Diesen Montag (21.03.2005) ging er bei meinem Anruf  nicht ans Telefon - Panik. Schnell von der Arbeit weg, nach Hause gefahren - er ist nicht da. Zur Tiefgarage, das Auto ist weg, das darf nicht sein. Rumtelefoniert, wo steckt er bloß? Gefunden, er ist bei seinem Arzt - wozu? Hinterher gefahren, er ist schon wieder weg, wieder nach Hause - da ist er. Unversehrt und mit Erstaunen, warum mache ich mir Sorgen?
 
Jetzt hilft es nichts, jetzt möchte ich nicht bei der Arbeit sitzen und irre werden. Gespräch mit Chefin, Fassungslosigkeit und Entsetzen und Verständnis für meine Situation. Werden wir geregelt bekommen, muß nur auf den Nachmittag warten. Nachmittags die Zusicherung ich erhalten die Kündigung, Kündigungsfrist  6 Monate, werde sofort freigestellt,die Tür bleibt offen, ich kann wieder zurückkommen. DANKE! Das ganze Jahr renne ich in meinem Hamsterrad, ich renne und renne und renne und drehe mich nur im Kreis. Will nicht wahr haben, was ich hier sehe und bekomme Hilfe von einer Seite, wo ich es nie erwartet hätte. Das vergesse ich nie.
 
Dienstag 22.03.05 dann der Termin beim Radiologen und Jürgen hat mich vergessen. Zum ersten Mal hat Jürgen mich vergessen! Ich saß im Wartezimmer und habe auf Jürgen gewartet - bei den Bildern kann ich ja nicht mit, aber zu dem Arztgespräch sind wir immer zusammen rein. Er kommt, zieht seine Jacke an, sagt wir können jetzt gehen. Auf meine Frage zu dem Gespräch sagt er, alles in Ordnung, das Ödem ist weg. Ich setze ihn wieder hin, maschiere vor, ja das Ödem ist weg, es gibt aber einen neuen Herd. Jürgen hat das gar nicht erfasst. Nächsten Dienstag 29.03.05 gehen wir nach Tübingen - würde die Augen und Ohren am liebsten zudrücken und mir nichts anhören.
 
Mittwoch 23.03.05 meinen Wunsch nach Kündigung bekräftigt, viel weinen, Angst was kommt. Als ich am Donnerstag 24.03.05 über den Mittag nach Hause kam, saß Jürgen auf dem Balkon. Er hatte seine Tabletten für den Tag gleich morgens auf einen Schlag genommen, hat sich keinen Kaffee gekocht und war komplett konfus. Da habe ich dann meine Mutter geholt, damit er nicht alleine ist und ich ein bißchen ruhiger sein kann. Ich bekam meine Kündigung und wurde gebeten, nicht zu lachen. Ich habe gelacht und dann gleich wieder geheult.
 
Jürgen braucht jetzt 1 Stunde zum Anziehen, am Freitag kam er nicht alleine aus der Badewanne raus. Beim Essen weiß er nicht wozu das Messer da ist, seine Tabletten zerkaut er bevor er zu schluckt. Ich bitte ihn um viel, sage immer, daß er doch eine hysterische Frau geheiratet hat und er soll es mir zuliebe tun. Dann macht er es meist mit einem komischen Lachen. Er ist nicht böse zu mir, seine Welt hat nur sehr viele Schrecken. Nächste Woche arbeite ich noch Mittwoch, Donnerstag und Freitag, meine Mutter bleibt bei Jürgen, dann werde ich weiter sehen. Wie das nun mit der Biomed Anfang April werden soll, weiß ich noch nicht, ich denke wir probieren es.
 
Hätte ich im Januar dem Arzt geglaubt, hätte ich 6 schöne Wochen verschenkt. Wochen der Hoffnung und Zuversicht. Wilde Gedanken in meine Kopf. Habe ich an alles gedacht, haben wir alles versucht? Gebe ich zu früh auf? War das die gute Prognose?
« Letzte Änderung: 18. August 2006, 20:20:44 von Ulrich »

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #1 am: 30. Mai 2005, 22:24:12 »
28.03.2005

Wirrwarr der Gedanken. Ich habe Jürgen gestern um 10.30 geweckt, gewillt mich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Aber er hat so ein Widerwille gegen die Tabletten, ich musste für jede Einzelne betteln. Das macht mich fassungslos. Da es Nachmittags zum Kaffee ging, wollte ich, dass er sich ein bisschen ausruht. Wenn ich ihn bei der Hand nehme, geht er überall mit. Im Moment spielt er mit den beiden Fernbedienungen, was er da wirklich macht, weiß ich nicht, wenn ich ihn frage bekomme ich das komische Lachen.

Es ist ein riesen Stress Jürgen in Kleidung zu bringen, wir haben Schuhe zum binden probiert und ich habe dann resigniert und er ist in Schlupfschuhe los. Ich wollte dass er nochmal aufs Klo geht, er ging ins Bad und hat die Tür geschlossen. Nach einer Ewigkeit schaute ich nach ihm, er saß mit Hose auf dem Klo, hat aber auch nichts gemacht.

Ich habe dann angefangen zu Kochen und irgendwann kam Jürgen dann zu mir in die Küche. Hat mich richtig gefreut. Er wollte dann das Hühnchen würzen und ich schau mal eine Weile nicht hin, er drehte den Pfeffer rein und drehte und drehte, hab ihm dann die Pfeffermühle weggenommen.

Er löffelt im Moment gerne alles, so musste ich auch die Salatsoße in Sicherheit bringen, sonst wäre nichts mehr übrig gewesen.

Beim Essen isst Jürgen jedes Fitzelchen auf, mit einer Konzentration die Angst macht. Es ist nicht einfach, mit Jürgen zu essen und sich nicht beeindrucken zu lassen. Mir bleibt einfach das Essen im Hals stecken. Anschließend wieder die blöden Tabletten und als ob der Tag nicht wild genug war, war ich noch wild entschlossen zu baden. Hab ihn wieder fast nicht rausbekommen. Bin dann aus dem Bad raus und nach einer Weile nach ihm geschaut. Er saß auf dem Hocker und konnte seine Socken nicht anziehen. Hab ihm dann beim anziehen geholfen und bin dabei abgebusselt worden.

Als wir nachts um 24.oo Uhr ins Bett sind, hat sich Jürgen Klamotten für den Arbeitstag gerichtet, sogar eine Krawatte hat er raus. Dabei arbeitet Jürgen seit Mai 2004 nicht mehr. Ich habe heute Morgen alles wieder eingeräumt – ich konnte nichts sagen.

Heute Morgen ist Jürgen alleine um 10.30 aufgewacht und sofort im Bad entschwunden. Da blieb er eine große Ewigkeit. Irgendwann hab ich dann mal nach ihm geschaut – er hat sich an den Ohren eine Glatze rasiert und als ich heulte, hat er sein komisches Lachen gelacht. Er wollte mir einen Kuss geben, aber das hätte ich einfach nicht ausgehalten. Jetzt schäme ich mich dafür. Er hat zum 1. Mal ins Bett gemacht, bin gerade an allem trocken legen. Da muß ich mir was einfallen lassen. Dann haben wir gefrühstückt und ich habe ihm eine Glatze rasiert. Er fand es auch nicht schön, aber warum er das gemacht hat, konnte er mir nicht sagen.

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #2 am: 31. Mai 2005, 22:19:09 »
01.April 2005

Besuch beim Hausarzt. Alles was ich ihm geschildert habe, hat der Hausarzt in Frage gestellt. Er hat mir den Eindruck vermittelt, als ob ich Dinge sehe, die so nicht da sind. Wenn ich überhaupt etwas in Frage stelle, soll ich bei den Medikamenten anfangen, es wäre eine Menge was Jürgen da nehmen muß. Auch das Thalidomide wäre nicht ohne. Er fragte noch Jürgen, was sagen er zu diesen Dinge sagt. Mein Jürgen hat zur Antwort gegeben, nun er wüsste auch nicht.

Nachts trägt Jürgen nun Windeln die ich Hosen nenne. Es sind wirklich Hosen. Jeden Abend sitze ich vor seinem Bett und bin am weinen, weil ich ihm das zumuten muß. Jeden Abend wehrt er sich dagegen und jeden Morgen ist er entsetzt, weil es nötig war.

03. April 2005

Wo anfangen? Wir waren am Dienstag, 29.03.2005, in Tübingen.
Warum schreibe ich mir das auf? Um nicht zu vergessen.


09. April 2005

Mal wieder sitze ich hier - versuche Gedanken zu sortieren und meinen Frieden zu schließen. In meinem Kopf summt es nur noch, wie schön unser Leben doch war. Jürgen ist jetzt im Winter seines Lebens und es fällt mir sehr schwer, mein Versprechen zu halten.
 
Es sind neue Herde da, je Herde, sind über den Balken zur anderen Hirnhälfte, dort wo die Konzentration und das Gedächtnis gesteuert wird. Beim Nachsorgetermin vor 3 Wochen in Tübingen wurde ACNU in Aussicht gestellt, wenn das nichts hilft, ein individueller Heilversuch in Tübingen mit Glivec und Litalire. Die Prognose ist schlecht. Ich bat um Bedenkzeit, wollte noch mit dem Hausarzt, Neurologen und Biomed sprechen. Diese Woche zum Neurologen und der hat sich richtig erschrocken. Er hat auf mich eingewirkt das die Medikamente in Tübingen überprüft und neu eingestellt werden sollen und zwar schnellstmöglich - mein Mann würde das so sicher wollen.
 
Seit Donnerstag (07.04.2005) ist er jetzt in der Klinik Tübingen. Ich sehe ja selbst, daß es jeden Tag weniger wird, was er noch kann. Dann hatte ich am Donnerstag mal wieder unglaubliches Glück mit einem Arzt dort. Ich halte mich fest, daß der Zustand von den Tabletten kommt (obwohl ich darauf bestanden habe das ich gekündigt werde) und dieser Arzt fragt mich allen Ernstes, ob ich nicht richtig informiert wäre. Der Zustand von Jürgen kommt vom Tumor. Ich habe wieder mal gepredigt, daß man ohne Hoffnung nichts anfangen braucht und es ist mir bewusst, wo das endet. Trotzdem belügt man sich und will die Tatsachen nicht sehen. Ich war behext von Ödem und Medikamente.
 
Gestern dann das Gespräch mit dem Oberarzt (kennt Jürgen von Anfang an und ist sogar noch in Tübingen!). Es war ein ehrliches Gespräch. Am Anfang im Zimmer von Jürgen. Er schaute nur mit großen Augen um sich. Ich fragte ihn, ob er mir helfen kann und er fand keine Worte. Dann sind wir raus, in ein Besprechungszimmer. Von einer weiteren Chemo rät er ab, nicht einmal mehr den individuellen Heilungsversuch mit Glivec. Der Tumor hat schon sehr viel zerstört. Eine Chemo könnte für eine kurze Zeit den jetzigen Zustand halten - bessern nicht. Auch nach Rücksprache mit Dr. Dresemann ist eine Chance mit Glivec sehr gering, da es sich schon um einen großen Tumor handelt. Man könnte jetzt mit Cortison den Zustand kurz bessern, damit überhaupt eine Chemo durchgeführt werden kann. Aber die Chancen sind minimal. Dieser Arzt hatte den Mut zu sagen was er machen würde und dafür bin ich ihm dankbar.
 
Der neue Herd und damit die Tumore wachsen sehr schnell. Der Einsatz von Cortison würde das nun Kommende verzögern. Wenn das Wachstum jetzt so weitergeht, dauert es noch wenige Wochen.
 
Am Montag (11.04.2005) hole ich ihn heim zu mir, so wie ich es versprochen habe. Will hoffen das ich alles richtig mache und vielleicht höre ich doch nochmal sein richtiges Lachen. Es fehlt mir sehr das er nicht mehr mit mir reden kann und was haben wir immer zu bereden gehabt. Ich lasse mich abbusseln und es zerreißt mein Herz, er ist in dieser Woche total verschmust geworden und das fühlt sich alles tief traurig an. Ganz selten wacht er noch auf und dann merke ich, daß er alles mitbekommt, obwohl es ihn meist nicht erreicht. Ich sitze bei ihm und weine, er schaut mich mit riesengroßen Augen an und will mich trösten. Und wenn es soweit ist, lasse ich ihn gehen, so wie ich es versprochen habe
 
Die Entscheidung für die Biomed war nicht falsch, nur denke ich, daß wir zu spät damit angefangen haben. Der neue Herd ist trotz Thalidomide gewachsen, eine Operation ist nicht möglich. Ist nicht ein Tumor, obwohl wir immer vom Tumor gesprochen haben. Ist Gliomatosis Cerebri - betrifft 3 Hirnlappen.
 
Zu jedem Lied im Radio fällt mir was ein. Der Film von unserem letzten Urlaub ist noch nicht entwickelt - ich denke da renne ich am Montag sofort los.
 
Es waren schöne Jahre, die letzten 5. Von der Hoffnung getragen. Hätte ich 1999 schon diese Verzweiflung haben sollen? Oder im letzten Jahr? Ich habe doch auf alles gehofft.

Die Einträge von Bärbel im Forum gegen Krebs über ihre Tochter Francoise  haben mir einen Eindruck vermittelt, was kommen kann. Ich versuche mich darauf vorzubereiten, falls das überhaupt geht.


Bärbel

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #3 am: 01. Juni 2005, 01:17:28 »
Liebe Bruni,

gerade las ich Deinen Beitrag und bin sehr erschüttert. Glaube mir, ich weiß welches Leid Du zur Zeit ertragen mußt. Du bist eine tapfere Frau und Dein Jürgen spürt Deine unermessliche Liebe.

Dein letzter Eintrag liegt schon eine Weile zurück. Bitte, schreibe weiter! Erst jetzt, im Nachhinein, spüre ich...wie sehr mir das Schreiben geholfen hat. Ich glaube, ohne unsere Krankengeschichte wäre meine Seele zersprungen.

Deine Verzweiflung, Deine Hilflosigkeit....die Machtlosigkeit, wie sehr kann ich das nachempfinden. Trotzdem....in Dir steckt mehr Stärke als Du glaubst. Auch ich habe mich immer wieder gewundert, woher ich die Kraft und Ausdauer nahm um das Erlebte ertragen zu können.

Liebe Bruni...ich werde ab Morgen wieder öfters dieses Forum besuchen. Werde nach Dir schauen und wenn Du es erlaubst....werde ich an Deiner Seite sein und Dich begleiten.

Ich wünsche Dir alles Liebe und ganz viel Kraft für die kommende Zeit.

Fühl Dich umarmt von Bärbel

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #4 am: 01. Juni 2005, 22:00:21 »
11.04.2005

Als ich gestern den Schwestern sagte, daß wir für morgen einen Krankenwagen brauchen haben sie mich mit großen Augen angeschaut. In welcher Weise ich Kenntnisse in der Krankenpflege habe, oder ob ich etwa Krankenschwester wäre. Habe nur geantwortet, daß ich es zumindest versuchen möchte und ob sie mir irgendwelche Tips geben können, was wir brauchen. Bin mit Betteinlagen, Hosen und einer Schnabeltasse wieder abgerückt, Krankenwagen geht klar.

Jürgen kam also mit dem Krankenwagen nach Hause. Er hätte den Weg zum Auto und in die Wohnung nicht mehr geschafft. Am Donnerstag ist er auf seinen Beinen ins Krankenhaus gegangen, das war jetzt nicht mehr möglich.

Und natürlich gab es die üblichen Differenzen mit der Klinik. Dem Stationsarzt wäre es am liebsten gewesen, wenn ich Jürgen am Samstag gleich nach Hause genommen hätte. Aber ich habe mit dem Oberarzt vereinbart, daß Jürgen am Montag heim kommt. Ich brauchte einfach die 2 Tage.

Am Vormittag kam noch ein empörter Anruf aus der Klinik, Jürgen wäre ja wohl sehr überstürzt nach Hause entlassen worden. Man hätte von der Klinik aus noch sehr viel erledigen können. Wie bitte??? Auf mein Ansprechen des Stationsarztes hat er mich an den Hausarzt verwiesen. Ich komme mir ziemlich veräppelt vor. Von der Klinik aus wird jetzt ein Pflegebett, Rollator und Toilettensitz beantragt, der Badewannenlifter kam heute Nachmittag, den Drehteller dafür hat Jürgens Schwester nachträglich noch geholt. Ist schon ziemlich dämlich, daß das Teil nicht gleich mitdabei ist.

Nachmittags war die uns zugewiesene Frau von Pflegediest Projekt da. Hat sich umgeschaut, uns kennengelernt und den ganzen Pflegehilfen Tempo verliehen. Sie ist eine resolute Frau, die Anweisungen sind kurz und exakt. Fragte ob Antrag für die Pflegeversicherung gestellt wurde – ja. Nachdem die EU-Rente ab 01.06.2004 läuft, gab sie zu Bedenken, daß die Krankenkasse eventuell Geld zurückfordert. Ich mach mir darüber keine Gedanken, setze mich hin und warte auf die Dinge die da kommen.

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #5 am: 01. Juni 2005, 22:39:52 »
Liebe Bärbel,

ich danke Dir. Jürgen ist noch bei mir. Ich hab mir alles aufgeschrieben um Gedanken zu sortieren und um Nichts zu vergessen.

Anfang April habe ich hier um Rat gefragt und leider damals keine Antwort bekommen. Aber vielleicht kann in so einer Situation keinen Rat gegeben werden. Wenn das nun bitter klingt, tut es mir leid, ist nicht so gemeint. Schon damals hat sich der Weg abgezeichnet, nur wollte ich es nicht wahr haben.

Fragst Du Dich manchmal, ob Du alles richtig gemacht hast?

Liebe Grüße Bruni

Bärbel

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #6 am: 02. Juni 2005, 00:47:35 »
Liebe Bruni,

ich freue mich sehr, daß Du Dich gemeldet hast... und das Du weiter schreibst.

Als ich mich um meine Tochter kümmerte, sie später pflegte....ich hatte so viele Fragen im Kopf. Ein Wirr-Warr von Gefühlen.  Erst war da diese wahnsinnige Hoffnung. Später nur noch Verzweiflung. Verzweiflung nichts tun zu können. Dieser eigenen Machtlosigkeit ausgeliefert zu sein. Zum Glück hatte ich hilfsbereite Ärzte gefunden. Unsere Hausärztin kam regelmäßig zu uns nach Hause. Im Notfall sofort. Sie hat Francoise großartig betreut und mich immer wieder aufgerichtet. Ich hoffe, Euer Hausarzt ist auch so fähig. Du wirst ihn sehr brauchen!  Außerdem stand mir jederzeit unser Arzt aus Bonn zur Seite.  Die Mails gingen nur so hin und her...und im Nachhinein glaube ich, daß ich ihn in meiner oft vorhandenen Panik ganz schön genervt haben muß. Er war mit mir immer geduldig. Ich bin ihm sehr dankbar.

Bruni...Du machst auch eine schlimme Zeit durch. Du weißt, wie die Krankheit von Jürgen enden wird. Du ahnst es und trotzdem verdrängen wir Menschen. Anders ist dieser Irrsinn auch nicht zu ertragen. Aber ich weiß....DU wirst es schaffen.  Du hast diese unmenschliche Herausforderung angenommen. Ich bewundere Deinen Mut. Du mußt Deinen Jürgen sehr lieben.

Nach Francoises Tod habe ich mich oft gefragt, ob ich alles richtig gemacht habe. Selbstzweifel überkamen mich. Sie konnte sich nicht mitteilen u. ich mußte die jeweiligen Bedürfnisse erraten oder erfühlen. Mit  Sicherheit gab es Mißverständnisse und manchmal wurde meine Tochter auch aggressiv mir gegenüber. Aber weißt Du Bruni....ich tat, was ich konnte. Ich habe alles gegeben, oft war ich so erschöpft, daß ich nicht mehr konnte. Und so glaube ich....es war alles in Ordnung.  An der Behandlung der Tumore habe ich keine Zweifel. Wie Du sicherlich in der Krankengeschichte gelesen hast, haben wir nichts unversucht gelassen. Francoise hatte keine Chance...der Tumor war nicht zu stoppen.

Bruni...Du machst alles richtig. Was ich Dir noch vorschlagen könnte...magst Du einen Pflegedienst einschalten? Sie kommen auch öfters am Tag und für Dich wäre es eine Erleichterung. Du wirst Dir Deine Kraft einteilen müssen. Schon die körperliche Anstrengung schlaucht ungemein. Von der seelischen Belastung will ich gar nicht reden. Laß den Pflegedienst wenigsten die Grundpflege übernehmen. So bekommst Du Atempausen.

Es tut mir leid, weil Dir niemand auf Deine Fragen geantwortet hat. Das war bestimmt keine böse Absicht. Ist mir auch öfters passiert. Oft ist keine Zeit vorhanden, Krankenhaus..Behandlungen..Pflege...Probleme. Manchmal wissen die Betroffenen oder Angehörigen auch keine Antworten. Sie stehen dermaßen mit ihren eigenen Sorgen im Streß, da bleibt einfach keine Zeit.

Liebe Bruni, Du kannst mir jederzeit schreiben. Wenn ich kann, beantworte ich Deine Fragen gerne. Vielleicht möchtest Du auch nur mal Dampf ablassen oder Dich ausheulen. Bleib so tapfer wie bisher. Du bist eine starke Frau.

Fühl  Dich umarmt von Bärbel

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #7 am: 06. Juni 2005, 12:12:33 »
12.04.2005

Die resolute Frau kam heute und macht mit uns die Brückenzeit. Einfach zeigen wie was zu machen ist, auch den Einsatz der Drehhilfe und der Badewannenlifter. Jürgen hat alles mit sich machen lassen. Es muß einfach alles langsam gehen und nicht zu schnell. Danach war Jürgen total geschafft.

Heute kam das Pflegebett und Jürgen hat sich daran nicht gestört. Das Bett haben wir kuschelig gemacht, er kann dort Tagsüber schlafen, wenn er möchte. Nachts geht es ins Schlafzimmer in unser Bett. Jürgen hat auch der Trubel nichts ausgemacht. Er hat nur mit großen Augen zugeschaut, wie sich unser Wohnzimmer auf einen Schlag verändert hat. Den Haltegriff habe ich nicht hingemacht, geht bei Bedarf ganz einfach.

Der Hausarzt war da, hat sich Jürgen angeschaut, nachdem er von der Klinik wieder da ist. Es sieht noch immer nicht, was da vor sich geht. Er ist entzückt, daß Jürgen in einem Block blättert (in dem nichts steht), einen Teller zur Spüle trägt – aber nicht viel sagt. Der Hausarzt fragte mich, warum ich Jürgen so viel helfe. Meine Arme gebe zum helfen aufstehen, mit ihm an der Hand durch die Wohnung laufe. Ich soll Jürgen nicht so viel helfen. Das habe ich dann versucht, habe nicht mehr geholfen und immer gesagt, probiere es alleine. Das Ergebnis war ein tief trauriger Jürgen und meine Gefühlswelt ist nun eindeutig aus den Fugen geraten.

13.04.2005

Heute kam der Rollator und der Toilettenaufsatz mit Armlehnen. Jürgen hat sich mit dem Rollator sofort angefreundet und fährt damit sehr gut in der Wohnung spazieren. Es ist schön da zu zuschauen. Seinen Besuch holte er höchstpersönlich an der Wohnungstür ab, hat stolz gezeigt wie er einparkt. Wenn Jürgen nicht gerade durch die Wohnung damit flitzt, dreht und schraubt er daran rum, ist für ihn ein interessantes Gerät, er hat eine diebische Freude damit und es ist eine große Hilfe
Der Toilettenaufsatz ist jetzt nicht ganz so toll. Ist halt schon was ganz anderes. Sind zwar Griffe zum halten da, aber ich habe den Eindruck, daß Jürgen nicht allzu viel Vertrauen dazu hat. Vielleicht gibt sich das im Laufe der Zeit.

15.04.2005

Heute haben wir die Pflege alleine gemacht. Unser Tagesrythmus ist ein anderer. Jürgen kann länger schlafen. Und nach dem Duschen der letzten Tage hat Jürgen heute gebadet und ich habe ein Aufblitzen in seinen Augen gesehen. Nach Bad und cremen war Jürgen dann doch sehr müde. Da

Seine Kleidung habe ich ihm rausgerichtet (einfach nur deshalb, weil er selbst nicht mehr konnte). Als er dann sah, was ich ihm rausgesucht hatte und er seinen Lieblingspulli gesehen hat, haben seine Augen wieder aufgestrahlt und geleuchtet. Über solche Dinge freut sich Jürgen.

Der Nachmittag gestern war ok, wir sind die Treppen in die 1. Etage gelaufen. Weiter runter wollte er nicht und als wir wieder oben waren, war er richtig froh. Er schnappt immer seinen Rollator und geht in der Wohnung rum, kann einparken und empfindet das Gerät wohl als Hilfe.

16.04.2005

Heute Morgen wusste Jürgen leider nicht mehr, weshalb ich ihn aufs Klo setze. Ich tue es aber weiterhin, vielleicht fällt es ihm irgendwann mal wieder ein. Wenn ich ihm sage, daß er pinkeln soll, schaut er mich bloß groß an. Das Baden war sehr anstrengend und morgen teile ich das ein bißchen anderst auf. Zuerst Frühstück und dann eine Pause, dann geht es ins Bad. Da müssen wir eben den richtigen Abstand rausbekommen. Er hat sich gefreut über seinen Besuch und war dann um 17.oo h auch müde. Beim Essen hat er wieder Hamsterbacken gemacht, alles reingestopft und nicht geschluckt. Ich hab gebettelt und gebettelt, aber er hat einfach nicht geschluckt. Auf einmal ist er unruhig geworden und ich habe ihn gefragt, ob er aufs Klo muß. Ja - dann wollte ich los mit ihm und hab sein Teller ein bißchen auf die Seite geschoben und er hat angefangen zu weinen. Er hat gedacht, ich nehme ihm das Essen weg und ich wollte doch nur aufs Klo mit ihm. Er hat dann weiter Hamsterbacken gemacht und irgendwann hab ich ihn gefragt, ob es ihm weh tut, das Schlucken. Ja, ihm tut das Schlucken weh. Joghurt, Pudding und Linsen die rutschen, aber Schaschlik rutscht nicht. Apfel geht auch, bröseliger Kuchen geht auch, aber ich kann ihm doch nicht nur Suppe zum Essen geben. Also brauchen wir einen Pürrierstab.
 
Nachdem ich in der Küche fertig war und das Bett neu überzogen habe, dachte ich zum ersten Mal Gott stehe uns bei. Ich verbiete mir immer zu fragen WARUM, wo unser Leben doch so schön war. Ich bin den ganzen Tag bei ihm und er ist so weit weg. So gerne würde ich mit ihm reden, so gerne würde ich sein Lachen hören. Aber immer nur ich, ich, ich...
 
Ich denke daß er alles mitbekommt, er kann es nicht richtig verarbeiten, aber er bekommt es schon mit, er spürt die Traurigkeit und die Verzweiflung.
 
 
17.04.2005

Jürgen hat um 9.oo Uhr noch friedlich geschnarcht und ich hab ihn erst um 9.45 Uhr geweckt. Beim Frühstück hat er sich verschluckt (es gab ein weiches Butterhörnchen - die liebe ich - und ein Joghurt), die Tabletten habe ich mit dem Hammer pulverisiert - somit ging auch das. Jürgen meinte dann, daß er aufs Klo muß und so saß er dann 30 Minuten auf dem Klo.  
 
Dann habe ich ihn rasiert und am Waschbecken gewaschen. Mein Jürgen ist natürlich sehr müde und seit ca. 12.oo Uhr schläft er wieder. Er geht heute wieder gebückt, davon lasse ich mich aber nicht nervös machen. Ich habe am Bett den Haltegriff anmontiert (zu nachtschlafender Zeit) und Jürgen hält sich feste daran. Auch sind wir immer mit dem Rollator ins Bad und in der Wohnung unterwegs, das dauert zwar länger, aber mein Rücken wird es mir danken.
 
Und ansonsten muß nicht immer alles so perfekt sein, wenn es mit dem Waschen oder duschen nicht mehr geht, dann muß eben die resolute Frau kommen, auch das bekommen wir wieder geregelt.
 
18.04.2005

Heute Morgen ging es nicht so gut. Jürgen kippt nach hinten und es scheint so, als wolle die linke Seite nicht richtig funktionieren. Der medizinische Dienst war hier und hat mich verhört. Sie war dabei als Jürgen aufgestanden ist und hat seine Bewegungen gesehen. Das Baden wollte sie dann nicht mehr sehen - wäre jetzt auch gar nicht gegangen. Mit Mühe hat Jürgen jetzt seine Clusters gegessen, seine Tabletten habe ich drunter geschmuggelt. An jetzt Waschen oder Duschen ist nicht zu denken. Er ist total müde und schläft jetzt in seinem Bett im Wohnzimmer.
 
Gestern Abend hat er sich um halb 10 sein Tüchlein auf den Kopf gelegt, dann habe ich ihn ins Bett gebracht. Ich hab das einfach als Zeichen der Müdigkeit empfunden. Er hat 2 Minuten später prompt geschlafen.
 
Runde 2 geschafft. Blödes Gefühl. Wir haben nur rasieren und waschen geschafft, fällt jetzt nach vorne und kann mir kaum helfen. Ich hab beim Sozialdienst angerufen, damit morgen jemand kommt. Ich brauche zu lange dafür und ich fürchte er ist dadurch furchtbar gequält. Dann lieber Hilfe und er hat es in einer halben Stunde geschafft.
 
Die resulute Frau hat telefonisch eine Toilettenstuhl geordert, damit kann Jürgen dann ins Bad und auch am Tisch essen. Jetzt wird wieder ausgetestet welcher Tisch passt, damit das Essen geht. Aber auch das wird sich einpendeln.

Große Schmuserunde mit Jürgen gemacht, er mag es und ich auch.

Seit 18.04.2005 liegt Jürgen im Pflegebett, die linke Seite ist gelähmt. Er hat mir in den Wochen sehr vieles abgewöhnt und ich hatte und habe viel zu schlucken. Sein Wesen hat sich nicht verändert, Jürgen ist noch immer der liebe Mensch der er immer war. Seit ca. 2 Wochen erhält er Morphium über eine Medikamentenpumpe in die Bauchdecke. Die Sozialstation kommt nun 3 x täglich.

Jürgen ist selten wach, aber er hat sich vor einer Woche auf besondere Art verabschiedet und in der letzten Woche hatte er ein Leuchten in den Augen und ein sehr, sehr entspanntes Gesicht.

Obwohl unsere Nächte überwiegend ruhig sind, erhielten wir die Pflegestufe III. Jürgens Schwester und meine Mutter stehen uns zur Seite, ohne die Beiden wäre vieles nicht möglich.

Nach anfänglichen turbulenten Besuchswochen ist nun endlich Ruhe eingekehrt, Besuch möchte ich keinen mehr haben. Ich habe so viel wache Zeit mit den Besuchern geteilt und diese Zeit gehört jetzt mir, seiner Schwester und meiner Mutter.

Schon vor Wochen kam vom Pflegepersonal immer mal wieder der Hinweis, daß es nicht mehr lange geht. Viele haben sich in den Urlaub verabschiedet und den Eindruck vermittelt, daß sie uns nicht wiedersehen. Sie kamen alle wieder und sind immer wieder erstaunt über meinen Jürgen.

Es gab immer wieder Momente, wo ich meinte, daß Jürgen einverstanden ist, mit der Art wie ich es mache. Noch immer hoffe ich, daß unser Weg so für ihn richtig ist und daß ich nicht allzu viel falsch gemacht habe. Meine Entscheidungen habe ich mit dem Bauch gemacht, selten mit dem Kopf. Ich denke nicht darüber nach, was morgen kommt und verdränge die Gedanken an danach.

Nun seit letzter Woche ist Jürgen nur noch geplagt und wir (Jürgens Schwester, meine Mutter und ich) halten Nachtwache. Ich hatte in den ganzen 6 Jahren immer den Eindruck, daß es eine schützende Hand über uns gibt und ich wünsche mir, daß es diese schützende Hand zuläßt, daß Jürgen sich nicht mehr so lange plagen muß.





Bärbel

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #8 am: 06. Juni 2005, 20:12:31 »
Liebe Bruni,

jeden Tag schaue ich in den Krankengeschichten nach, ob Du wieder geschrieben hast. Nicht..dass ich neugierig bin..oh nein. Wahrscheinlich wird Dir auch sehr oft die Zeit fehlen, um Deine Gedanken nieder zu schreiben. Das Schicksal verbindet uns, obwohl wir uns nicht kennen. Manchmal weine ich, wenn ich Deine Zeilen lese.

Das Du den Besuch ausgeschaltet hast, kann ich gut verstehen. In den letzten Wochen mochte ich auch keinen Besuch mehr haben. Die wache Zeit von meiner Tochter war zu kostbar und die Besuche zu anstrengend. Zu uns kam regelmäßig eine sehr liebe Pastorin. Sie heißt Helga und war einfach nur da. Das tat mir so gut. Sie setzte sich still an Francoises Bett und hielt schweigend ihre Hand. Ich hatte den Eindruck, das Francoise diese Momente genoss. Sie hielt die Hand ganz fest u. wollte nicht mehr los lassen.

Höre weiter auf Dein Bauchgefühl. In bin sicher, besser kann für Deinen Mann nicht gesorgt werden. Du machst das alles so großartig. Er darf bei Dir in der gewohnten Umgebung bleiben und Deine Liebe zu ihm wird Euch beide tragen.

Glaube mir Bruni, es wird eine Zeit kommen, in der Du dann sehr glücklich sein wirst, weil Du diese schwere Zeit gemeinsam mit Jürgen zu Hause verbracht hast. Ein größeres Geschenk kannst Du ihm nicht machen.

Meine Gedanken sind bei Euch und ich wünsche Dir Bruni weiterhin die Kraft und Ausdauer, die Du brauchst.

Herzlichst Bärbel





Moritz

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #9 am: 07. Juni 2005, 13:11:26 »
Liebe Bruni,
Deinen Krankenbericht zu lesen, fällt mir einerseits sehr schwer, weil ich mich an so vielen Stellen wiederfinde und dabei so unglaublich viele Bilder wieder präsent sind. Es ist mittlerweile ein halbes Jahr her, seit meine Lebensgefährtin an einem pilozytischen Astrozytom gestorben ist. Ich habe mich zwar zwangsweise an viel Neues gewöhnt (gewöhnen müssen), dennoch fehlt sie mir sehr.
Andererseits kann ich Dir nur sagen, dass es großartig ist, wie Du bzw. ihr mit dieser Situation umgeht! Ich bin davon überzeugt, dass ihr alles total richtig und gut macht und irgendwann einmal um ein vielfaches für alles entlohnt werdet. Das ist sicher nicht das Motiv für euren Einsatz, den Aussenstehende übrigens gar nicht beurteilen können, und auch ganz sicher ein schwacher Trost. Ich möchte Dir dennoch sagen, wie sehr ich es bewundere, dass es Menschen gibt, die in der Lage sind, in einer solchen Situation nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern voll und ganz für den (oder die) über alles Geliebten da zu sein. Ich habe selbst erfahren, dass es bei aller Kraft, die das ganz sicher kostet, es auch Momente gibt, die von einem nicht zu beschreibenden Glücksgefühl geprägt sind. Meine Lebensgefährtin und ich sind uns durch die Krankheit noch viel, viel näher gekommen, als wir es ohnehin schon waren!
Ich kann Dir und euch nur alle Kraft der Welt wünschen und auch mal eine starke Schulter zum anlehnen!
Moritz

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #10 am: 13. Juni 2005, 16:38:30 »
Wie alles begann.

Es war der 2. Sommer (1999) in unserer eigenen Wohnung, einer kuscheligen Dachwohnung. Unser Leben war schön, leichtsinnig, keine große Sorgen. Gerne hätte ich ein Kind gehabt. An einem Samstag Nachmittag döste ich auf dem Balkon ein, wachte auf und habe Jürgen vermißt, er sollte eigentlich schon wieder da sein. Schließlich kam er dann noch, war eine schöne Stimmung an diesem Tag, ein leichtsinniges Leben halt. Wir fuhren Abends meine Schwester zum Flugplatz und gingen anschließend mit meiner Mutter zum Italiener. Mit Jürgen war alles normal.
 
Nach dem Essen wurde er auf einmal blas, bekam eine spitze Nase und fing an zu "zappeln". Mit Notarzt ins Krankenhaus nach Reutlingen, Verdacht auf Kreislaufkollaps. Als ich ihn am nächsten Tag besuchen wollte, war er nicht auf seinem Zimmer. Ich musste ca. 30 Minuten auf ihn warten und wurde schon langsam ein bißchen "bruddelig". Als er dann endlich wieder auf sein Zimmer kam, sagte er mir, das er sterben wird, er hat etwas im Kopf was da nicht hingehört, nach einer Weile schickte er mich weg. Seit diesem Tag macht mir warten nichts mehr aus, denn wer weiß, was nach dem warten kommt. Nach einer Woche konnte ich ihn vom Krankenhaus wieder holen, das weitere Behandlungsschema hatte Reutlingen klar gemacht, Operation in Freiburg, weil dort die Besten sind, so die Reutlinger.
 
Es ging leider nicht sehr lange gut. Am 3.Tag zu Hause bekam er wieder einen epileptischen Anfall, ich war total durch den Wind. Ans Telefon, Notarzt gerufen. Die haben zurück gerufen, ob es den wirklich einen Krankenwagen sein soll, oder ob auch ein Hausarzt reicht - kam mir richtig veräppelt vor. Er kam dann mit dem Krankenwagen nach Tübingen ins Krankenhaus. Dort absolutes Erstaunen, weshalb die Reutlinger uns nach Freiburg schicken wollten, wo doch Tübingen so gut ist. Dort Vertrauen gefasst. Jürgen war an jedem Wochenende hier bei mir Zuhause. Ich holte ihn Samstagvormittag ab und brachte ihn am Sonntagabend wieder zurück, rannte morgens zur Arbeit und abends ins Krankenhaus. Dann endlich die Operation. Auf eine Art gewünscht und auf die andere Art gefürchtet, wer weiß was da nun wieder rauskommt. Es ging gut, keine Beeinträchtigung, Tumor Astro II, also eher gutartig. Hallo Leben, es kann alles wieder so weitergehen wie vorher, dachte ich. War nicht mehr das gleiche, wurde ernster, nachdenklicher und überlegter, kein Leichtsinn mehr. Jürgen hatte mit seiner Seele zu kämpfen und war in psychotherapeutischer Behandlung.
 
Alle 3 Monate zur Nachsorge, natürlich mit viel Sorgen. Es ging 2 Jahre gut. Nachsorgetermin kurz vor Weihnachten, es tut sich was. Der Arzt in der Klinik war superschnell und hat gleich einen Termin in der Onkologie gemacht, zwecks Strahlengesprächs. Der Arzt sah sich die Bilder an. Neee, wird nicht bestrahlt, noch zuwarten. Anfang Mai 2002 kam ich von meinem wöchentlichen Marktgang zurück und Jürgen lag auf dem Sofa und sagte er hätte einen Anfall gehabt. Ich gestehe es, ich dachte er übertreibt. Aber es passierte wieder. Nach dem Anfall bin ich ans Telefon gestürzt und hab den Notruf angebrüllt: Mein Mann hat ein Gehirntumor, hat einen epileptischen Anfall und ICH WILL SOFORT EINEN NOTARZT. Der kam dann umgehend, Notarzt voraus, Krankenwagen hinterher, mit Blaulicht und Sirene zur besten Samstagmittagzeit.
 
Wieder in Tübingen wurden ausführlich die Bilder diskutiert und dann letztendlich bei der Begutachtung aller Bilder eine Veränderung festgestellt, also Chemo, Bestrahlung sollte als Joker aufgehoben werden. Jürgen machte dann 8 Monate die PCV-Chemo, eine "leichte" und gutverträgliche Chemo. Im 8. Zyklus bekam er dann eine Gürtelrose und die Chemo wurde sofort abgebrochen. Tumor wurde etwas kleiner. Chemo wirkte nach, die Bilder 6 Monate später waren gut.
 
Im selben Jahr verstarb unerwartet Jürgens Mutter, wir standen komplett unter Schock. Dann kam der September 2003. Es scheint eine Veränderung in den Bildern zu geben, andere Stelle als der alte Tumor. Noch abwarten, nächste Bilder kurz vor Weihnachten. Es scheint noch immer eine Veränderung, noch zu diffus - abwarten, kürzere Nachsorge, nächster Termin Februar dieses Jahr. Februar  weiter zuwarten, bloß die Bilder weiterhin beim gleichen Radiologe machen lassen. Anfang Mai unschöner Termin mit Radiologe, weil wir Kopien von den Bildern wollten. Kopien erhalten mit der Gewissheit: Der sieht uns nie wieder.
 
Im Mai dann die Entscheidung Bestrahlung, weil die Chemo nun doch nicht so lange gehalten hat. Ab Mitte Juni Bestrahlung, volle Dosis, war eine harte Zeit. Hoffnung und Glauben das es lange, lange hält. Aussage des Arztes, wenn es nicht 5 Jahre hält, dann wären wir sehr enttäuscht.
 
Nachsorgetermin September, der Tumor ist trotz Bestrahlung gewachsen, der Tumor ist höhergradig, was genau kann nur die Histologie bestimmen und das ist zu gefährlich, außerdem würde es die weitere Behandlung nicht beeinflussen. Also Temodal-Chemo, wenn die nicht anschlägt dann wird's "eng" so der Arzt. Hyperthermie lehnt Tübingen ab, obwohl sie ein Gerät haben. Sollte Jürgen Hyperthermie machen, wird von Tübingen die Chemo abgebrochen - also erfahren sie es einfach nicht.
 
Es ist sehr schwer das anzunehmen und dagegen anzukämpfen. Es gibt einfach Tage, wo man etwas besser damit umgeht und an manchen Tagen glaubt man daran zu zerbrechen. Und doch gilt      immer weiter, immer weiter .... bleibt uns nichts anderes übrig.
 
Ja, oft war es mir zum davonlaufen, bin trotzdem da geblieben. Wir haben erst im Jahr 2000 geheiratet, trotzdem. Unser Miteinander ist anderst geworden, ich glaube wir sind auch inniger geworden. Der Leichtsinn ist weg, man handelt überlegter. Jürgen geht ab und zu auf Tour, macht einen Männerabend. Ich fahre ihn und seinen Kumpel ins Städtchen und da ziehen sie um die Häuser. Manchmal mache ich mir schon sehr Sorgen, aber wenn ich ihn dann am nächsten Morgen wieder sehe, weiß ich genau, daß es seiner Seele gut getan hat - weg von mir, über Männerwitze lache, einen über den Durst trinken und vielleicht auch mit Mädchen flirten.
 
Natürlich machte ich mir Sorgen, immer und ständig, aber es änderte nichts

Nach 2 Zyklen wurde die Temodal-Chemo von Tübingen abgesetzt, weil der Tumor weiter gewachsen ist. Mitte November erfolgte 1 Zyklus ACNU ohne VN 26. Genau nach Plan waren die Blutwerte Anfang Januar im kritischen Bereich und Jürgen mußte 5 Tage in der Klinik bleiben.

Anfang Dezember ist Jürgen in die Biomed, wild entschlossen die ACNU abzubrechen. Der erste Aufenthalt dort war hoffnungsvoll - die Bilder im Januar 2005 zeigten einen Stillstand und einen verhaltenen Rückgang. Wie ich jetzt weiß, hat der Tumor nur Luft geholt.

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #11 am: 15. Juni 2005, 19:57:36 »
Nachdem Jürgen am 08.06. ab morgens 5.30 h sehr Mühe hatte Luft zu bekommen und der Pflegedienst von wenigen Stunden sprach ist Jürgen um 22.50 h eingeschlafen, sie sagen er ist friedlich eingeschlafen. Ich hätte mir sein Gesicht anderst gewünscht, aber vielleicht ist das selbstsüchtig. Zumindest war Jürgens Gesicht dann seinem wirklichen Gesicht ähnlich und der Mund war entspannt.

Hab alles aus dem Bauch heraus gemacht und nicht viel nachgedacht. Habe jeden Tag genommen wie er kam. Der Pflegedienst dachte, daß ich unter Tabletten stehe, aber ich habe einfach nur alles aus dem Bauch gemacht und mich nicht irritieren lassen.
 
Jürgen hat sich 2 Wochen vorher ganz lieb verabschiedet, daß es ein Abschied war spürte ich. So wach und da war er die ganze Zeit nicht. Eine Woche bevor er starb hatte er das Strahlen in den Augen und ein ganz friedliches, entspanntes Gesicht.
 
Er ist sich selbst treu geblieben, Jürgen ist Jürgen geblieben und hat es mir nicht schwer gemacht. Jürgen war bis zum Schluß hier bei mir Zuhause und auch sein Lachen durfte ich nochmal hören. 2 Tage vorher habe ich zu Jürgen gesagt "Du schimpfst mich" - da hatte er sich ein brummen angewöhnt - und nach vielen Tagen ohne Kopfbewegung hat er den Kopf geschüttelt. Ich will hoffen, daß Jürgen mit allem einverstanden war und daß es so für ihn in Ordnung war.
 
Obwohl die Ärzte meinten, daß wir es nicht Zuhause schaffen, haben wir es jetzt doch geschafft. Vielleicht ist Jürgen deshalb so lange bei mir geblieben, weil er mich nicht alleine lassen wollte.

Er ist jetzt den Weg gegangen, den wir alle einmal gehen.
 

Bruni

juergen

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #12 am: 16. Juni 2005, 20:51:04 »
Es ist verdammt schwer.

pady

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #13 am: 16. Juni 2005, 23:24:54 »
Hey Bruni,
alles Liebe, ich weiß, wie es dir geht, wünsche Dir viel Kraft.
Monika

Bärbel

  • Gast
Re:Wie es weiter geht
« Antwort #14 am: 17. Juni 2005, 01:35:04 »
Liebe Bruni,

ich weiß wie Du Dich fühlst und fühle ganz tief und traurig mit Dir, man ist im Zwiespalt - mit seinen Gefühlen - einerseits ist man froh, daß der geliebte Mensch nun nicht mehr leiden muß, und andererseits zerreißt es Dich, vor unermeßlicher Sehnsucht.

Ich trauere und weine mit Dir. Für Deine "Wanderung durch das Land der Trauer" wünsche ich Dir unendlich viel Kraft - Mögen die Liebe und die  Selbstlosigkeit, mit der Du Jürgen in den schweren Zeiten begleitet hast, auf Dich selbst zurück strahlen und Dich wärmen...

In meinen Gedanken nehme ich Dich in den Arm und halte Dich. Ganz still und ohne Worte.

Alles Liebe von Bärbel

Bruni, wenn Dir danach sein sollte...Du kannst mir jederzeit schreiben. Hier meine Email-Adresse: friedemann.iserlohn@freenet.de


 



SMF 2.0.19 | SMF © 2022, Simple Machines
Hirntumor Forum © 1996-2022 hirntumor.de
Impressum | Datenschutzerklärung