Wie alles begann.
Es war der 2. Sommer (1999) in unserer eigenen Wohnung, einer kuscheligen Dachwohnung. Unser Leben war schön, leichtsinnig, keine große Sorgen. Gerne hätte ich ein Kind gehabt. An einem Samstag Nachmittag döste ich auf dem Balkon ein, wachte auf und habe Jürgen vermißt, er sollte eigentlich schon wieder da sein. Schließlich kam er dann noch, war eine schöne Stimmung an diesem Tag, ein leichtsinniges Leben halt. Wir fuhren Abends meine Schwester zum Flugplatz und gingen anschließend mit meiner Mutter zum Italiener. Mit Jürgen war alles normal.
Nach dem Essen wurde er auf einmal blas, bekam eine spitze Nase und fing an zu "zappeln". Mit Notarzt ins Krankenhaus nach Reutlingen, Verdacht auf Kreislaufkollaps. Als ich ihn am nächsten Tag besuchen wollte, war er nicht auf seinem Zimmer. Ich musste ca. 30 Minuten auf ihn warten und wurde schon langsam ein bißchen "bruddelig". Als er dann endlich wieder auf sein Zimmer kam, sagte er mir, das er sterben wird, er hat etwas im Kopf was da nicht hingehört, nach einer Weile schickte er mich weg. Seit diesem Tag macht mir warten nichts mehr aus, denn wer weiß, was nach dem warten kommt. Nach einer Woche konnte ich ihn vom Krankenhaus wieder holen, das weitere Behandlungsschema hatte Reutlingen klar gemacht, Operation in Freiburg, weil dort die Besten sind, so die Reutlinger.
Es ging leider nicht sehr lange gut. Am 3.Tag zu Hause bekam er wieder einen epileptischen Anfall, ich war total durch den Wind. Ans Telefon, Notarzt gerufen. Die haben zurück gerufen, ob es den wirklich einen Krankenwagen sein soll, oder ob auch ein Hausarzt reicht - kam mir richtig veräppelt vor. Er kam dann mit dem Krankenwagen nach Tübingen ins Krankenhaus. Dort absolutes Erstaunen, weshalb die Reutlinger uns nach Freiburg schicken wollten, wo doch Tübingen so gut ist. Dort Vertrauen gefasst. Jürgen war an jedem Wochenende hier bei mir Zuhause. Ich holte ihn Samstagvormittag ab und brachte ihn am Sonntagabend wieder zurück, rannte morgens zur Arbeit und abends ins Krankenhaus. Dann endlich die Operation. Auf eine Art gewünscht und auf die andere Art gefürchtet, wer weiß was da nun wieder rauskommt. Es ging gut, keine Beeinträchtigung, Tumor Astro II, also eher gutartig. Hallo Leben, es kann alles wieder so weitergehen wie vorher, dachte ich. War nicht mehr das gleiche, wurde ernster, nachdenklicher und überlegter, kein Leichtsinn mehr. Jürgen hatte mit seiner Seele zu kämpfen und war in psychotherapeutischer Behandlung.
Alle 3 Monate zur Nachsorge, natürlich mit viel Sorgen. Es ging 2 Jahre gut. Nachsorgetermin kurz vor Weihnachten, es tut sich was. Der Arzt in der Klinik war superschnell und hat gleich einen Termin in der Onkologie gemacht, zwecks Strahlengesprächs. Der Arzt sah sich die Bilder an. Neee, wird nicht bestrahlt, noch zuwarten. Anfang Mai 2002 kam ich von meinem wöchentlichen Marktgang zurück und Jürgen lag auf dem Sofa und sagte er hätte einen Anfall gehabt. Ich gestehe es, ich dachte er übertreibt. Aber es passierte wieder. Nach dem Anfall bin ich ans Telefon gestürzt und hab den Notruf angebrüllt: Mein Mann hat ein Gehirntumor, hat einen epileptischen Anfall und ICH WILL SOFORT EINEN NOTARZT. Der kam dann umgehend, Notarzt voraus, Krankenwagen hinterher, mit Blaulicht und Sirene zur besten Samstagmittagzeit.
Wieder in Tübingen wurden ausführlich die Bilder diskutiert und dann letztendlich bei der Begutachtung aller Bilder eine Veränderung festgestellt, also Chemo, Bestrahlung sollte als Joker aufgehoben werden. Jürgen machte dann 8 Monate die PCV-Chemo, eine "leichte" und gutverträgliche Chemo. Im 8. Zyklus bekam er dann eine Gürtelrose und die Chemo wurde sofort abgebrochen. Tumor wurde etwas kleiner. Chemo wirkte nach, die Bilder 6 Monate später waren gut.
Im selben Jahr verstarb unerwartet Jürgens Mutter, wir standen komplett unter Schock. Dann kam der September 2003. Es scheint eine Veränderung in den Bildern zu geben, andere Stelle als der alte Tumor. Noch abwarten, nächste Bilder kurz vor Weihnachten. Es scheint noch immer eine Veränderung, noch zu diffus - abwarten, kürzere Nachsorge, nächster Termin Februar dieses Jahr. Februar weiter zuwarten, bloß die Bilder weiterhin beim gleichen Radiologe machen lassen. Anfang Mai unschöner Termin mit Radiologe, weil wir Kopien von den Bildern wollten. Kopien erhalten mit der Gewissheit: Der sieht uns nie wieder.
Im Mai dann die Entscheidung Bestrahlung, weil die Chemo nun doch nicht so lange gehalten hat. Ab Mitte Juni Bestrahlung, volle Dosis, war eine harte Zeit. Hoffnung und Glauben das es lange, lange hält. Aussage des Arztes, wenn es nicht 5 Jahre hält, dann wären wir sehr enttäuscht.
Nachsorgetermin September, der Tumor ist trotz Bestrahlung gewachsen, der Tumor ist höhergradig, was genau kann nur die Histologie bestimmen und das ist zu gefährlich, außerdem würde es die weitere Behandlung nicht beeinflussen. Also Temodal-Chemo, wenn die nicht anschlägt dann wird's "eng" so der Arzt. Hyperthermie lehnt Tübingen ab, obwohl sie ein Gerät haben. Sollte Jürgen Hyperthermie machen, wird von Tübingen die Chemo abgebrochen - also erfahren sie es einfach nicht.
Es ist sehr schwer das anzunehmen und dagegen anzukämpfen. Es gibt einfach Tage, wo man etwas besser damit umgeht und an manchen Tagen glaubt man daran zu zerbrechen. Und doch gilt immer weiter, immer weiter .... bleibt uns nichts anderes übrig.
Ja, oft war es mir zum davonlaufen, bin trotzdem da geblieben. Wir haben erst im Jahr 2000 geheiratet, trotzdem. Unser Miteinander ist anderst geworden, ich glaube wir sind auch inniger geworden. Der Leichtsinn ist weg, man handelt überlegter. Jürgen geht ab und zu auf Tour, macht einen Männerabend. Ich fahre ihn und seinen Kumpel ins Städtchen und da ziehen sie um die Häuser. Manchmal mache ich mir schon sehr Sorgen, aber wenn ich ihn dann am nächsten Morgen wieder sehe, weiß ich genau, daß es seiner Seele gut getan hat - weg von mir, über Männerwitze lache, einen über den Durst trinken und vielleicht auch mit Mädchen flirten.
Natürlich machte ich mir Sorgen, immer und ständig, aber es änderte nichts
Nach 2 Zyklen wurde die Temodal-Chemo von Tübingen abgesetzt, weil der Tumor weiter gewachsen ist. Mitte November erfolgte 1 Zyklus ACNU ohne VN 26. Genau nach Plan waren die Blutwerte Anfang Januar im kritischen Bereich und Jürgen mußte 5 Tage in der Klinik bleiben.
Anfang Dezember ist Jürgen in die Biomed, wild entschlossen die ACNU abzubrechen. Der erste Aufenthalt dort war hoffnungsvoll - die Bilder im Januar 2005 zeigten einen Stillstand und einen verhaltenen Rückgang. Wie ich jetzt weiß, hat der Tumor nur Luft geholt.