HirnTumor-Forum

Autor Thema: Glioblastom WHO IV, multiforme  (Gelesen 29346 mal)

pady

  • Gast
Glioblastom WHO IV, multiforme
« am: 14. Januar 2004, 01:28:19 »
Silvester 2001
 
Günter ist im Bad, er rasiert sich. Plötzlich kommt er ins Schlafzimmer und wirft sich, ganz gegen seine Gewohnheit aufs Bett sich seine Hand haltend. Seine Hand zuckte,er konnte sie nicht ruhig halten. Wir fuhren zur Ambulanz nach Duisburg.    
Im Klinikum  bat uns eine junge Ärztin in ein Untersuchungszimmer. Sie hört sich an was am Morgen mit meinem Mann passiert ist und beginnt dann ihn sehr gründlich zu untersuchen. Sie fragt nach Vorerkrankungen und Günter erzählt von seiner Schimmelpilz- Allergie, von seinem M. Bechterew und von seinem Bandscheibenvorfall an der HWS. „Sicherheitshalber machen wir ein MRT, damit wir nichts übersehen. Ein MRT vom Gehirn,“ meint die Ärztin.

In der folgenden ersten Januarwoche  passierte nichts Wesentliches. DerTermin beim Röntgenologen zum MRT ist am 1. Freitag, dem 05.Jan. des Jahres 2001, es wurde spät,  schließlich, nach 19.00 Uhr kam Günter endlich. Er war sehr ruhig, so schien es mir, aber irgendwie war seine Stimme anders. „Setz Dich mal hin“, ganz normal hörte er sich an,  der Arzt hat etwas gefunden, ich habe einen Gehirntumor …, das Ding bringt mich um“. Günter saß da und sagte solche Dinge.  „Ich muss operiert werden“, Günter sah mich an, wie mir schien ohne eine Regung, aber er war zutiefst verzweifelt, er hatte Angst. Günter versuchte zur Normalität zurückzufinden, doch die Angst war da.
Was kommt auf uns zu?
Was kommt auf ihn zu?
Was passiert nun?
Gibt es Hilfe, Rettung?
Diese Angst hat uns von diesem Zeitpunkt an nie mehr verlassen, von einem Moment auf den anderen war nichts mehr in unserem Leben normal.
Wir machten einen Termin im Klinikum Duisburg. Zuhause lief alles scheinbar wie sonst auch. Günter war jetzt arbeitsunfähig, er war zu Hause.
Er versuchte sich abzulenken, telefonierte viel mit seinen Arbeitskollegen und „seinen“ Schwerbehinderten. Er glaubte noch sehr lange irgendwann wieder arbeiten gehen zu können.  Er war sehr aktiv.  
Unsere Liebe, die Zuneigung zueinander wurde anders, langsam, aber es war für uns beide spürbar. Es zählte jetzt jeder Augenblick, schon von Anfang an. Wir berührten uns mehr, umarmten uns häufig ohne Grund.

Der erste von vielen Terminen im Klinikum Duisburg war da.
Ein sehr junger Arzt sah sich die vorher ambulant gemachten Kontroll- MRT- Bilder an. Er sprach zu uns von der Möglichkeit, dass es sich um einen Astrozytom handeln könnte, die Möglichkeit einer Metastase eines unbekannten Primärtumors wollte er auch nicht ausschließen. Es könne aber auch etwas ganz anderes sein, die OP müsse in jedem Fall sein, erst dann hätte man nach der Histologie Klarheit. Günter hörte aufmerksam zu, er war zuerst noch in der Lage sich ganz auf seinem Gegenüber zu konzentrieren. Doch im Laufe des Gespräches merkte ich, dass er dem Gesagten nicht mehr folgen konnte, er war verwirrt, er war entsetzt, er war nicht mehr in der Lage den grausam sachlichen Darlegungen des Arztes zu folgen, er wollte ihnen nicht mehr folgen. Aber es war erst der Anfang.
Günter wurde am 09.01.01 stationär genommen, er wurde untersucht, EKG, Lungenröntgen, Blutuntersuchungen, EEG und Sonographien von seinem gesamten Körper wurden gemacht. Er wurde für die Operation vorbereitet.
12.01.01. Die Operation war in vollem Gange. Stundenlang wartete ich, stundenlang saß ich im Gang auf der Intensivstation und wartete darauf, dass ich zu Günter durfte.
Ich stand vor seinem Bett, er wirkte in dem Intensivbett so klein, so hilflos, so traurig. Ich habe geweint, ihn gestreichelt. Ich habe ihn ganz leise gerufen, er sollte endlich wach werden. „Moni, da bin ich wieder“, ganz leise hat Schuchi (so nenne ich ihn wenn ich ganz zärtlich bin) mit mir gesprochen. Sein Kopf ist verbunden, er hat Zugänge an den Händen und Armen, durch die die Medikamente in seinen Körper gepumpt werden. Er ist an einem Überwachungsmonitor angeschlossen, der seinen Herzschlag und den Blutdruck misst. In seinem Kopf steck noch ein Schlauch, ich glaube der dient dazu um Flüssigkeiten, wie z. B. Blut, dass noch von der Operation stammt, ablaufen zu lassen.
Ich weiß ich nicht mehr, was ich alles gesagt habe. Ich war nur froh in diesem Moment, dass Günter noch Günter war, dass er mich erkannte, dass er reden konnte und sonst so schien wie immer.
Der Arzt, der die Operation durchgeführt hatte, kam und meinte, dass die Operation gut verlaufen sei. Sie hätten „fast“ alles herausgeholt.
Ein einziges Wort von dem was der Arzt sagte blieb in meinem Kopf und machte mir Angst. Er hat gesagt „fast“ alles habe man herausgeholt. Fast heißt nicht alles, fast alles heißt, der Tumor bzw. ein Teil von ihm ist noch im Kopf von Günter. Dieses „Fast“ kann wieder anfangen zu wachsen. Dieses „Fast“ sagt, dass der Tumor in Teile des Gehirns eingewachsen ist und nicht entfernt werden kann. Günter glaubt, zumindest in diesem Moment, dass er das Schlimmste hinter sich hat.
„Die Histologie, die wir vom Tumor eingeschickt haben wird uns in 14 Tagen Auskunft darüber geben um was für einen Tumor es sich handelt, bis dahin müssen wir warten,“ mit diesem Worten verabschiedete sich der Arzt und ließ uns allein.
Die postoperative  Phase verlief gut, nach und nach wurden Günter verschiedene Zugänge gezogen und nach 2 Tagen auf der Intensivstation verlegte man ihn auf die Normalstation. Hier sollte er bleiben bis das Ergebnis der Histologie da sei.
Günter wurde mobilisiert, dass heißt, er wurde von den Schwestern dazu angehalten aufzustehen und zu laufen. Das Kribbeln in der Hand trat nicht mehr auf. Die 14 Tage nach der Operation gingen vorbei.
Das Ergebnis der Histologie ist da,Günter hatte einen Glioblastom multiforme, Grad IV  Der Arzt meinte, er hätte noch 3 bis 4 Monate und solle die Zeit, die ihm bleibt nutzen.
Günter war müde, er wollte endlich seine Ruhe. Aber er fand keine Ruhe.  Günter war und blieb arbeitsunfähig. Noch war er sehr aktiv, er fuhr noch selbst in den Ort zum Einkaufen. Dann, eines morgens wollte er Brötchen holen. Als er zurückkam meinte er wie nebenbei, ab jetzt fahre ich nicht mehr, es geht nicht. Meine Hand kann ich nicht mehr so kontrollieren wie es sein sollte.
Das war das letzte Mal, dass er selbst mit seinem Auto gefahren ist. Es war für ihn ein Abschied, ein Abschied von seinen Autos, an denen er mit Freude immer gearbeitet hat, sie waren sein Hobby, auch dass war jetzt vorbei.
Zur Nachbesprechung mussten wir wieder ins Klinikum Duisburg. Die weitere Therapie wurde auch festgelegt. Die Ärzte erklärten uns Günter müsse jetzt bestrahlt werden um den Resttumor zu zerstören, außerdem wolle man direkt mit dem 1. Zyklus der Chemotherapie beginnen. Die Bestrahlung dauerte immer nur wenige Minuten, ging aber über 40 Sitzungen. Für die Bestrahlungen wurde Günter eine Haube angefertigt, die es ermöglichen sollte das Bestrahlungsgebiet ganz genau einzugrenzen. Mein lieber Mann fuhr mit der Taxe von Anrath nach Duisburg zur Bestrahlung.
Die 1. Chemotherapie vertrug er noch gut, er hatte keine nennenswerten Beschwerden.
Durch das Internet erhielten wir eine Adresse in Dülmen, dort sollte es im dortigen Krankenhaus einen Spezialisten geben, der sich vorwiegend auf Gehirntumore spezialisiert hatte.
Natürlich machten wir so schnell es ging einen Termin bei diesem Arzt. Doch vorher musste sich Günter noch dem 2. Zyklus der Chemotherapie unterziehen, zu diesem Zweck blieb er einige Tage im Klinikum Duisburg stationär.
Der 1. Termin in Dülmen war am 27.03.01. Um 10.00 Uhr sollten wir uns in der onkologischen Ambulanz des Krankenhauses in Dülmen melden. . Wir waren sehr zeitig da, meldeten uns im Sekretariat der Abteilung. Doch vor uns waren noch mehrere andere Patienten, die ebenfalls einen Termin hatten. Es waren alles Krebs- Patienten, die meisten hatten wohl Gehirntumore. Nach kurzer Zeit des Wartens wurden wir in das Sprechzimmer des leitenden Arztes gebeten. Dieser war nett und freundlich, er unterhielt sich mit uns um dann auch gleich auf den Grund unseres Besuches zu sprechen zu kommen.
In erster Linie erzählte Günter, was er hatte, welche Art Tumor in seinem Kopf war, was bisher therapeutisch und operativ gelaufen war. Er gab dem Chefarzt die vorhandenen schriftlichen Befund und die bisher gemachten Röntgenunterlagen. Es wurde über die OP, deren Ergebnis und über den Erfolg der Bestrahlung gesprochen. Dieser Arzt war anders, es fiel uns gleich auf. Er war Schulmediziner durch und durch, doch er vermittelte das Gefühl, man könne tatsächlich etwas tun, man müsse kämpfen und könne  u. U. gewinnen. Er scherzte, er war im nächsten Moment ernst, er fragte und dass, was uns am positivsten auffiel, er konnte zuhören. Und Günter wollte reden, reden, er wollte erzählen, welche Ängste er hatte, welche Hoffnungen er sich erlaubte, wovor er Angst hatte, einfach alles was außer mich bisher niemanden, insbesondere keinen Arzt, interessierte. Wir redeten über Möglichkeiten der verschiedensten Therapien, über andere Chemos, über weitere Operationen, über Möglichkeiten in verschiedenen Universitätskliniken, ja, sogar die Möglichkeit der Therapie in den USA haben wir besprochen. Doch zuerst sollte Günter die begonnene Bestrahlung und die Chemotherapie durchführen. Nach diesem 2. Zyklus sollte dann in 6 Wochen ein Kontroll- MRT gemacht werden. Um ein Gehirnödem zu vermeiden sollte Günter neben dem Kortison mit der Einnahme von Glycerinsaft beginnen. Außerdem nahm Günter gegen eine Ödembildung Weihrauch (H 15).
Bei unseren späteren Terminen, die ca. alle 6 Wochen stattfanden, haben wir mit anderen Patienten gesprochen. Alle hatten das gleiche Gefühl wie wir, dieser Arzt nimmt uns ernst, dieser Arzt versucht seinen Patienten zu helfen, wenn auch medizinisch nicht immer möglich, so hilft er in Form von Gesprächen, in denen er dem Patienten das Gefühl vermittelt, du bist nicht allein, wir schaffen das. Ich höre Dir zu, mir kannst Du Deine Gefühle mitteilen, dass half, dass half sehr.
Den nächsten Zyklus der Chemotherapie machte Günter in Dülmen, er blieb dort stationär. Er vertrug auch diese Chemotherapie noch gut.
Wieder zu Hause veränderte sich mein Mann. Wir haben viel gestritten, über die nebensächlichsten Dinge. Manchmal war Günter zufrieden, fast so als wäre nichts. Dann wieder war er total unzufrieden, fragte sich und mich was er nur getan habe. Er wollte von mir in den Arm genommen werden und dann wieder schien es ihm lästig zu sein, er liebte mich um mich kurz darauf zu hassen, er suchte meine Nähe, er wollte allein sein. Seine Konzentration ließ spürbar nach, er stotterte viel, dass hatte er auch früher schon gemacht wenn er sehr aufgeregt war. Aber es schien so, als würden diese Symptome nach jedem Krampfanfall schlimmer und er bekam jetzt häufiger Krämpfe, mal nur in der Hand, mal die gesamte linke Körperhälfte, manchmal, und das war am schlimmsten, hatte er das Gefühl, der Krampf konzentriere sich auf seinen Kopf. Manchmal waren die Krämpfe sehr kurz, manchmal schienen sie nicht aufzuhören. Während eines Krampfes konnte ich meinem lieben Mann nicht helfen, ich konnte ihn nur festhalten, festhalten und warten und mit ihm sprechen. Er hat mir einmal gesagt es würde ihm helfen wenn ich mit ihm spreche wenn er einen Krampf hat. Wenn er einen Krampf kommen spürte, gab ich ihm 1 Tabl. eines starken Beruhigungsmittels, mal half es, mal half es nicht.
Auch wurde das Laufen immer schwieriger. Den linken Arm konnte er schon länger kaum noch bewegen, die Hand hatte er zur Faust geballt, sie ließ sich kaum noch öffnen.
Dann, im späten Jahr, es muss August 2001 gewesen sein, hörten wir von einer Studie in der Universitätsklinik Düsseldorf, der Interleukin- Studie. Dabei wurde einem Hirntumor- Patienten Interleukin, ein Nervengift, direkt an den Tumor gebracht. Dieses Zellgift sollte den Tumor zerstören. Dann, nach einigen Wochen sollte bei einer Operation das restliche Tumorgewebe entfernt werden. Wir sprachen darüber mit Günters Arzt in Dülmen. Dieser meinte es wäre einen Versuch wert, woraufhin wir uns einen Termin in Düsseldorf geben ließen.

Günter erhielt diesen Termin, es wurde ihm erklärt was genau geschehen würde und er sollte stat. aufgenommen werden, was dann auch geschah. Erst wurden diverse Untersuchungen durchgeführt, u. a. auch ein neues MRT des Gehirns. Dann erfolgte die eigentliche Therapie. Günter wurde operativ ein Zugang zum Tumor gelegt und über eine Infusion leitete man das Zellgift an den Tumor. Dieses Procedere überstand mein tapferer Mann relativ gut, in dieser Zeit hatte er wohl nur einen Krampfanfall.
Dann konnte er nach Hause. Im November 2001 sollte dann die Operation stattfinden.

Doch zwischenzeitlich erlitt Günter bei der Krankengymnastik, die er 2 x pro Woche zu Hause erhielt, eine Lungenembolie,er konnte sich während einer Übung nicht mehr bewegen, er hatte sehr starke Schmerzen und wurde schließlich bewusstlos. Ich rief sofort den Notarzt, der auch innerhalb von Minuten kam. Er untersuchte Günter, ein EKG wurde angeschlossen, er bekam Sauerstoff und der Notarzt meinte, Günter müsse sofort ins Krankenhaus. Unsere größte Sorge war es dann, konnte Günter in 2 Wochen nach Düsseldorf, dort sollte die angekündigte Operation der Interleukin- Studie stattfinden. Nach einem Gespräch mit dem behandelnden Arzt versprach dieser, Günter mit dem Krankenwagen zum OP- Termin nach Düsseldorf zur Uniklinik bringen zu lassen.
Auch diese 2. Operation überstand Günter relativ gut. Er fühlte sich wohl, wurde so gut es ging mobilisiert und es kam der Tag der Entlassung. Vorher wurde noch ein MRT gemacht.

Günter erhielt daraufhin sofort die nächste Chemotherapie in Dülmen. Der Resttumor wurde  kleiner, es ging Günter besser und wir hofften.
 
Schon vor einiger Zeit hatten wir einen Badelift beantragt und erhalten. Günter, der immer sehr auf sein Äußeres achtete, war nun bei den einfachsten Dingen der Körperpflege auf mich angewiesen. Da das Laufen für ihn sehr schwierig geworden war und unser Badezimmer im 1. Stock liegt, mussten wir die Treppe nach oben überwinden. Anfangs haben wir es noch alleine geschafft. Günter zog sich mit der gesunden Hand die Treppe hoch und ich schob von hinten, achtete darauf, dass sein linker Fuß immer richtig stand und versuchte ihn so gut es ging zu stützen und zu schieben. Im Badezimmer half ich ihm beim Ausziehen und dabei in die Wanne zu steigen. Wenn er dann endlich auf dem Sitz des Wannenliftes saß, ließ ich den Sitz in die Wanne gleiten, das geschah durch Wasserdruck mit einer Fernbedienung. Dann ließ ich ihn allein, Günter wollte das bisschen Selbständigkeit, er wollte nicht, dass ich die ganze Zeit bei ihm blieb.
Da mein Schatz jetzt sehr immobil war, hatten wir uns darauf geeinigt, dass er, in der Zeit wenn ich arbeiten muss, im Wohnzimmer auf der Couch bleibt. Ich habe ihm aus dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, eine Urinflasche besorgt, so dass er nicht auf die Toilette gehen musste. Morgens stellte ich ihm etwas zu trinken und zu essen ins Wohnzimmer, besorgte ihm seine Tageszeitung und einige Kleinigkeiten zum naschen. Das Telefon legte ich ihm auch auf den Tisch sowie die Fernbedienung des Fernsehers.
Wir telefonierten täglich mehrmals. Anfangs war es auch noch möglich, doch mit der Zeit wurden die Gespräche schwierig.

In diese Zeit fiel auch der Tag, ab dem wir nicht mehr die Treppe hinauf kamen, wir schliefen jetzt im Wohnzimmer, Günter auf der einen, ich auf der anderen Couch. Wir haben uns dazu entschlossen, weil Schuchi eines Morgens, als wir die Treppe wieder nach unten mussten einen Krampf mitten auf der Treppe bekam. Ich konnte ihm gerade noch beim Hinsetzen auf die Stufe helfen, als der Krampf mit seiner ganzen Wucht zuschlug. Da saßen wir nun auf der Treppenstufe, Günters Körper wurde vom Krampf geschüttelt, er war überhaupt nicht mehr bei sich und ich hatte Mühe zu verhindern, dass er die ganze Treppe herunter rutschte. Nach dem Krampf blieben wir noch eine lange Zeit sitzen bevor wir es wagten nach unten zu gehen.  

Mit Mühe gelang es uns noch zu unseren Terminen nach Dülmen zu kommen. Schon längere Zeit mussten wir mit einem Taxi fahren. Wir hatten immer das gleiche Taxi und der Fahrer war sehr nett, er half Günter in das Taxi, fuhr ihn mit dem Rollstuhl in die Klinik und brachte uns anschließend, nach langer Wartezeit, wieder zurück nach Hause.
Weihnachten stand vor der Tür. Wir haben dieses Fest ganz ruhig verbracht, es waren nur unsere Söhne und meine Mutter da. Günter ging es wieder relativ gut. Schon mehrere Tage hatte er keinen Krampf mehr gehabt. Es waren schöne Tage, wir haben viel geredet, über alles Mögliche. Es waren wirklich schöne Weihnachten, unsere letzten, denn es war nicht zu verkennen, es ging meinem Schuchi wesentlich schlechter als 1 Jahr zuvor. Er war schnell müde und er schlief viel, sehr viel.
Es ist wieder Silvester, Silvester 2002, Wir feiern wieder, ruhiger als letztes Jahr. Ein Jahr Glioblastom multiforme IV, ein Jahr Angst, Hoffnung, Verzweiflung und immer wieder Hoffnung liegen hinter uns. Aber auch ein Jahr voller Liebe, Liebe, die mir Günter gab und die ich ihm gab. Es ist ein schönes Fest.  Anders als vor einem Jahr hat Günter kein einziges Haar mehr, aber das stört weder ihn noch mich. Hauptsache wir sind zusammen, dass ist das wichtigste, das ist alles was wir noch wollen.

Das Jahr 2002 bringt Günter gesundheitlich nichts gutes, es geht ihm immer schlechter. Mittlerweile braucht Schuchi einen Rollstuhl, das Laufen klappt gar nicht mehr.  Andrè u. Oliver sind viel bei ihrem Vater. Ihre Hilfe tut ihm und mir unendlich gut, wir spüren ihre Liebe zu ihrem Vater, dass hilft sehr. Allmählich wird es auch unmöglich für meinen Schatz auf der Couch zu schlafen. Sie ist einfach zu unbequem und zu tief. Also beantragen wir ein Krankenbett und erhalten es schnell. Das Sanitätshaus, von dem wir alle Hilfsmittel bekommen, reagiert sofort wenn wir irgendetwas brauchen. Auch dieses Verständnis hilft. In diesem Krankenbett liegt Günter sehr viel bequemer als auf der Couch und ins Schlafzimmer im 1. Stock kommen wir sowieso nicht mehr.
Noch nehmen wir unsere Mahlzeiten zusammen ein. Wir frühstücken zusammen und wir essen gemeinsam zu Mittag. Dafür habe ich einen fahrbaren Tisch gekauft, so sind wir bei den Mahlzeiten noch zusammen. Doch mit der Zeit fällt auf, dass Günter seinen Teller, der vor ihm steht nicht sehen kann. Er isst von meinem Teller, er trinkt meinen Kaffee. Erst habe ich ihn darauf aufmerksam gemacht, dann habe ich gemerkt, es ist ihm gar nicht möglich seinen Teller zu sehen und so habe ich versucht das alles eher witzig zu kommentieren was mir von Zeit zu Zeit, je nachdem wie es Schuchi ging, ein Lächeln von ihm einbrachte.
Auch dass ist bald vorbei, Günter isst immer weniger und hat bald keinen Appetit mehr. Er schläft auch häufig beim Essen ein und ist nicht mehr zu bewegen etwas zu sich zu nehmen. Wenn er dann doch einmal isst, verschluckt er sich häufig und heftig. Auch die Tabletteneinnahme ist fast unmöglich da ihm das Schlucken jetzt sehr schwer fällt. Mit einem Mörser zerkleinere ich alle Tabletten und gebe sie ihm dann auf einen Löffel mit etwas Flüssigkeit, das klappt noch.
Wenn er wach ist, ist sein einziges Vergnügen fernzusehen und so gut es geht mit mir zu reden, auch das Sprechen fällt ihm jetzt sehr schwer. Günter mag die Serie Tatort und deshalb sehen wir uns wirklich jeden Tatort an, auch wenn es schon die ich weiß nicht wievielte Wiederholung ist und natürlich Nachrichten. Meistens aber schafft er die Sendungen nicht da er einschläft. Außerdem will Schuchi jetzt unbedingt die Tour de France sehen und so läuft das Fernsehen den ganzen Tag. Es ist sein einziges Vergnügen, deshalb ist es mir vollkommen egal wie lange der Kasten an ist.
Mein Schatz liegt jetzt den ganzen Tag im Bett, Aufstehen ist unmöglich, er braucht Windeln und die Urinflasche. Seine Gelenke schmerzen ihm sehr wenn ich ihn morgens, mittags oder abends lagern muss. In dieser Zeit sind Oliver und Andre eine große Hilfe für mich.
Sie schimpfen auch mit ihrem Vater wenn er etwas Unvernünftiges machen will, es ist aber ein Schimpfen, dass nie wirklich ernst ist sondern letztlich nur der Angst und Sorge  um ihren Vater entspringt. Einer unserer Söhne ist immer bei seinem Vater. Erst wenn ich da bin und sie nicht mehr brauche gehen sie ihren Beschäftigungen und auch ihrem Vergnügen nach.
Jetzt ist es Juni, Günter hatte am 03.06., seinen 54. Geburtstag. Meine Mutter, sein Bruder, seine Schwester und der Schwager sind gekommen sowie Verwandte aus Leverkusen. Zum Kaffee haben wir Günter noch mit Hilfe unserer Söhne im Rollstuhl an den Kaffeetisch gefahren, doch anschließend war er wieder sehr müde und musste sich hinlegen.
Der restliche Monat verlief relativ ruhig, Günters Krämpfe kamen und gingen, mal mehr, mal weniger.
Im Juli starb Günters Mutter. Bei der Beerdigung eine Woche später ging es meinem Schuchi körperlich ziemlich gut, zwar war er nach wie vor auf den Rollstuhl angewiesen, aber er wirkte wacher und schien kaum Schwierigkeiten zu haben auch die Trauerfeier zu überstehen, doch zu Hause holte ihn seine furchtbare Krankheit ein. Er sprach jetzt auch sehr wenig und wenn, dann sehr undeutlich.

Ab und zu wollte er dann unbedingt aufstehen. Einmal war Oliver dabei, als Günter sich kaum davon abbringen ließ. Oliver musste seine ganze Überzeugungskraft einsetzen um seinen Vater von seinem Vorhaben abzubringen.
Das gleiche erlebte auch Andre mit seinem Vater, auch er setzte sich gegen ihn durch, denn selbst mit Hilfe hätte Günter gar nicht mehr stehen oder laufen können.
Anfang August  ich bin dann mit ihm im Rollstuhl noch einmal spazieren gegangen. Mit dem Rollstuhl sind wir fast einmal ganz um unseren Ort gelaufen. Wir hatten Spaß, haben über irgendwelche Leute gelästert, waren ziemlich albern, haben unterwegs ein Eis gegessen und waren nach etwas mehr als zwei Stunden wieder zu Hause. Das war das letzte Mal, dass wir beide zusammen etwas unternommen haben.

Später im August  hörte mein Schatz ganz auf zu sprechen, wenn ich mit ihm redete, ihm erzählte was ich auf der Arbeit erlebt hatte, was mit den Kindern war, sah er mich nur an. Er sah mich unverwandt an, manchmal weinte er ein bisschen, selbst dazu war er mittlerweile zu schwach. Ich habe stundenlang bei ihm gesessen, habe ihn gestreichelt, ihm lustige Dinge erzählt, ihm die Tränen weggeküsst, mit ihm geschmust. In dieser Zeit waren wir uns noch einmal sehr nah. Doch auch diese Momente, die ich so liebte, wurden uns genommen. Mein Schatz war nur noch selten ganz wach. Da jetzt auch die Ernährung unmöglich wurde, beschloss ich ihn ins Krankenhaus zu bringen um ihm eine Ernährungssonde legen zu lassen. Alle Medikamente hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon weggelassen.
Am 10. August abends hörte sich Günters Atmung sehr schlecht an, bei jedem Atemzug brodelte es in seiner Brust und ich vermutete er habe etwas Wasser, dass er noch gelegentlich schlückchenweise trank aspiriert, die ganze folgende Nacht habe ich ihn immer wieder absaugen müssen, doch es wurde nicht besser. Auch hatte mein lieber Schatz Fieber, welches ich versuchte durch Wadenwickel, die ich alle 15 Minuten erneuerte, zu senken.
Am frühen Morgen des 11. August rief ich den Notarzt. Der versuchte erst Günter zu beatmen, was nicht gelang. Dann entschloss er sich dazu noch einen Versuch zu unternehmen Günter abzusaugen, mit Erfolg. Anschließend wollte er ihn in ein entferteres Krankenhaus auf die Intensivstation bringen. Nachdem ich dem Notarzt Günters Patienten- Testament, welches wir kurz nach Ausbruch der Krankheit aufgesetzt hatten, zeigte und darauf bestand Günter in das kleine Krankenhaus zu bringen in dem ich arbeite, stimmte er schließlich zu und so wurde mein Schatz dort zur Anlage einer Magensonde eingeliefert. Weitere intensivmedizinische Maßnahmen wollte Günter nicht und ich habe seinen Wusch durchgesetzt.
Während des stationären Aufenthaltes reagierte Günter noch einige Male  auf Ansprache, sagte ja oder nein, je nachdem was man ihn fragte.
Am deutlichsten ist für mich erinnerlich, eines Tages, Günter war wach, habe ich ihm einen Kuss gegeben. Plötzlich spürte ich, wie er mich festhielt, er sah mich an, hielt mich mit all seiner Kraft fest, als ob er mich nie wieder loslassen wolle. Minutenlang haben wir uns ganz fest umarmt, ich habe ihm gesagt dass ich ihn liebe, dass ich ihn brauche. Schuchi sah mich nur mit großen traurigen Augen an.
Das war das letzte Mal, dass mein lieber Schatz eine so lebhafte Reaktion gezeigt hat.
Nach knapp 2 Wochen kam er wieder nach Hause. Er war jetzt komatös, die Ernährungspumpe hielt ihn am leben. Ich schlief nur noch bei Licht, damit ich sofort reagieren konnte, wenn Günter mich brauchte. Doch er reagierte auf nichts mehr. Ab und zu hatte ich den Eindruck, er wollte die Augen öffnen, doch er hat mich bis zum Schluss nicht mehr angesehen. Nur beim Lagern riss er manchmal die Augen weit auf, ich glaube nicht, dass er noch etwas sah in diesen kurzen Momenten.
Am Abend des 29. Oktober hat sich Günter wieder erbrochen, ich saugte ihn ab und stellte die Ernährungspumpe auf einen ganz geringen Tropfrhythmus ein um ein weiteres Erbrechen zu verhindern. Lange konnte ich nicht einschlafen, immer wieder sah ich nach meinem Schatz, doch er schien jetzt ganz ruhig zu schlafen.

Dann, am frühen Morgen des 30. Oktober, es muss so um 5.30 Uhr gewesen sein, weckte mich Oliver, der aufgestanden war um zur Arbeit zu gehen. Er sagte nur „Mama, der Papa…guck mal..“, diese wenigen Worte sagten mir Günter ist tot. Er ist ganz leise gestorben, er ist eingeschlafen für immer. Jetzt gibt es nie mehr Schmerzen mehr für Günter, meinem lieben Schuchi. Günters Sterben begann knapp 2 Jahre zuvor in Lermost während eines wunderschönen Urlaubs, er wollte noch ganz lange leben.


« Letzte Änderung: 04. Februar 2004, 08:15:15 von Ulrich »

Bärbel

  • Gast
Re:Glioblastom WHO III, multiforme
« Antwort #1 am: 20. Januar 2004, 02:26:35 »

Liebe Pady,

ich umarme Dich ganz still und leise. Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Liebe Grüße und Gedanken von Bärbel
(Mutter von Francoise Astro III)

 



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