Hallo,
es freut mich sehr, dieses Forum gefunden zu haben. Es tut doch immer gut, sich mit Leuten zu unterhalten, denen es mehr oder wenig ähnlich geht. Mein Name ist hier
Monique. Ich bin gebürtige Niederländerin und lebe seit 14 Jahren in Deutschland (NRW).
Vor 2 Monaten ist mein Vater nur 6 Wochen nach der Diagnose Glio IV im Alter von 68 Jahren gestorben. Ich habe hier einige Erfahrungsberichte gelesen und somit brauche ich euch wohl nicht zu sagen, wie niederschmetternd so eine Diagnose ist. Alsob einem die Beine plötzlich unter dem Körper weggetreten werden...
Mein großer, starker, kämpferischer, eigensinniger Papa! Er wollte 120 Jahre alt werden, hat er uns noch im Februar "angedroht". Daraufhin haben meine Geschwister, Mutter und ich gespielt stöhnend gesagt, wir würden dann freiwillig eher abtreten...
Denn einfach war er noch nie, unser Vater, und das wusste er auch. Aber ein Unikat, von dem kein zweiter auf Erden herumspaziert.
Der Tumor hat ihn dort erwischt, was ihn als Person ausmachte: in den Zentren für Verhalten, Emotionen und Sprache. (fronto-temporal-links 6x9 cm) Ende Februar ging er erstmals mit mit Alzheimer-ähnlichen Beschwerden zum Hausarzt. Dieser schickte ihn sofort zum Neurologen. Ab da lief dann alles schief. Der Neurologe verkannte den Ernst der Lage und hat Papa auch mit täglich zunehmenden Auffälligkeiten herumlaufen lassen. Erst am 1. April (nein, es ist leider kein Scherz) wurde der Tumor diagnostiziert und am nächsten Tag meinen Eltern die Diagnose mitgeteilt.
Ich hätte gerne "Todesdiagnose" hingeschrieben, denn Papa war ein Typ, der wissen wollte wo er dran war. Leider war der Neurologe nicht ehrlich und hat gemeint, es müssten noch die üblichen Diagnostiken gemacht werden, ob es sich um einen primär-Tumor oder eine Metastase handele. Dann würde eine Biopsie gemacht werden um zu sehen ob gut oder bösartig und anhand der Ergebnisse würde das weitere Vorgehen bestimmt werden. So weit so gut. Natürlich haben wir gehofft, dass es nur ein Grad 2 sei, oder dass der Tumor zumindest gut operabel sei, so dass Papa vielleicht noch 1-2 jahre zu leben hätte... Papa blieb 1 Woche für weitere Diagnostiken im Krankenhaus. Dort bekam er u.a. Dexamethason, was den Hirndruck verringern sollte. Tat es auch, und das Gute daran war, dass er wieder etwas besser sprechen konnte. Er war nämlich seit 2 Wochen nicht mehr in der Lage, zusammenhängende Sätze von sich zu geben.
Gleichzeitig kamen allerdings auch die ersten psychotischen Anzeichen. So musste man ihn mit Engelszungen zureden, seine Medis zu schlucken. Er wurde sehr misstrauisch und beschuldigte die Ärzte und manchmal auch die Mama davon, ihn tot haben zu wollen. Wir Geschwister wohnen alle nicht gerade um die Ecke. Mein Bruder ist Seemann, also auch oft weg. Im Nachhinein sind wir soooooooo glücklich darüber, dass wir alle gemeinsam an dem Wochenende nach Hause gefahren sind um den Papa im Krankenhaus zu besuchen!!
Es war nämlich das letzte Wochenende wo wir uns noch mit Papa haben unterhalten können und er sich unsere Anwesenheit bewusst war. Hätten wir es bloß gewusst. Vor allem für die Mama wäre es so wichtig gewesen Abschied nehmen zu können!!
Denn was folgte war die Hölle. Zwei Tage später wurde Papa entlassen und kam auf die Warteliste für eine OP. Die Ärzte waren sehr vage, zeigten uns (im Nachhinein) nur die Fotos, wo der Tumor am unschuldigsten aussah, meinten eine OP sei möglich, obwohl nicht alles entfernt werden könne (was ja immer so ist bei den Glios).
Papa fühlte sich zurecht im Stich gelassen, kämpfte und tobte, wollte eine 2. Meinung und ließ Mama darum die CD mit den Fotos aus der radiologischen Praxis anfordern. Als die CD eintraf, war die Psychose schon so weit fortgeschritten, dass Papa nur noch agressiv war und jeden in seiner Nähe aufs übelste beschimpfte und terrorisierte. Er konnte Situationen nicht mehr richtig einschätzen, zermackelte das Auto, fuhr fast einen Fahrradfahrer um, zeigte aber überhaupt keine Einsicht, als man ihm sagte, er solle nicht mehr autofahren.
Irgendwann eskalierte die Lage. Wir Kinder hatten Angst um die Sicherheit unserer Mutter und verständigten den Hausarzt, er solle doch bitte regelmäßig nach dem Rechten gucken, da wir nur an den Wochenenden da sein konnten. Der Arzt kam, überblickte die Lage wollte Papa sofort ins Krankenhaus einweisen. Papa wollte ausschließlich in die neurologische Spezialklinik. Als der Arzt ihm sagte, dass dort erst ein Bett für ihn frei sei, wenn der OP-Termin stünde, rastete Papa aus, schnappte sich die Autoschlüssel und rannte weg. Er wurde einige Stunden später von der Polizei gestopt und in die Psychiatrie gebracht. Ich kann das jetzt alles ganz ruhig und trocken schreiben, aber vor 3 Monaten war es wie in einem schlechten Film. Keiner von uns konnte wirklich glauben, was da geschah.
Nach 2 Tagen im Isolationszimmer und Zwangsmedikation wurde er endlich ruhiger und versprach, ab sofort regelmäßig seine Medikamente zu nehmen. Daraufhin wurde er nach Hause entlassen. Bereits am nächsten Morgen verweigerte er wieder jegliche Tablette. Dann kam endlich der erlösende Brief: OP-Termin am 8. Mai!! Mama hat das Datum als Strohalm genommen: nur noch bis dahin, dann kann ich die Verantwortung abgeben, dann kann ich endlich schlafen (denn Papa geisterte nachts durchs Haus und zerstörte alles was ihm in die Finger kam). Papa hatte jeglichen Bezug zur Realität verloren. Er schmiss das Geld mit Kübeln zum Fenster raus und wenn Mama ihn bremsen wollte, war die Hölle los. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Sachen die er kaufte, zu verstecken und die Kassenzettel zu bewahren. Denn er hatte im nächsten Moment seine Einkäufe schon wieder vergessen. Auch mein Bruder, der inzwischen von Bord gekommen war und Pflegeurlaub genommen hatte, hatte gut zu tun, Händler und Handwerker zurückzupfeifen und zu besänftigen.
Am 7. Mai fuhren sie in die Uniklinik nach Groningen (NL). Dort wurde erneut einen Kernspint durchgeführt. Mein Vater war an dem Tag sooo quer und soooo beleidigend zu meiner Mutter, dass sie zusammenbrach und nur noch weg wollte. Jetzt fühlt sie sich soooo schuldig, dass sie ihn in dem Augenblick alleine gelassen hat, denn einige Stunden später kam die Nachricht, dass es für eine OP zu spät sei. Papa hat getobt und gebrüllt wie ein Irrer, rief Mama aufs Handy an, sie hätte ihr Ziel erreicht: er würde sterben, jetzt könne sie die Kinder anrufen und anfangen zu feiern. Wir wissen alle, dass es die Krankheit war und dass man es ihm nicht übelnehmen kann. Aber in dem Augenblick tut es sooooo gigantisch weh!!!
Papa wurde zwangssediert und am nächsten Tag nach wie vor schlafend zurück in die Psychiatrie gebracht. Ich fuhr nach Holland und konnte mir somit endlich auch die inzwischen eingetroffene CD mit den Tumorbildern angucken. Mama war entsetzt. Da gab es so viel eindeutigere Bilder als man ihr einige Wochen vorher gezeigt hatte!! Die linke Gehirnhälfte schien fast ausschließlich aus Tumorgewebe zu bestehen. All die kleinen schleichenden Veränderungen meines Vaters in den letzten 2 Jahren schienen plötzlich logisch. Es war ein Wunder, dass er überhaupt so lange "normal" funktionieren konnte.
Der Begleitbrief hat die ganze Familie dann in Rage versetzt. Dort stand schwarz auf weiß, dass es sich um einen hochgradigen primären Glioblastom im weit fortgeschrittenen Stadium handele. Es war also von Anfang an klar gewesen, dass hier Hopfen und Malz verloren war! Und die Ärzte taten so, als müssten sie erst mal gucken.....
Anstatt abzuwarten, hätten meine Eltern die wenige Zeit nehmen können, Abschied zu nehmen. Jetzt gab es die Möglichkeit nicht mehr.
Denn Papa´s Psychose vertiefte sich von Tag zu Tag. Die Zwangssedierung hatte seinen Allgemeinzustand auch erheblich verschlechtert. Er beschimpfte seine Kinder, sagte mir recht ins Gesicht: du kannst Stolz auf dich sein, du hast mich wo du mich haben willst, du hast gewonnen, in 72 Stunden gehört das Erbe dir usw... Mama war aber noch viel schlimmer dran. Er demütigte sie wo er nur konnte. Wir nehmen es ihm heute nicht mehr übel. Das taten wir 1 Stunde danach auch schon nicht mehr. Nur in der direkten Situation packt einem die kalte Wut. An dem Abend fing er an, die Schwestern in der Psychiatrie zu schlagen. Also, erneut in den Isolationsraum. Mama durfte dann24 Stunden nicht zu ihm. Danach fiel die Fassade für wenige Stunden. Zum ersten und letzten Mal hat Papa geweint. Er flehte Mama an, ihn mit nach Hause zu nehmen. E wolle doch zu Hause sterben...
Mama brauchte allerdings einige Stunden um die ambulante Pflege zu organisieren. Da sie dort arbeitet, ging es recht fix, aber trotzdem dauerte es bis zum Abend ehe sie Papa abholen konnte. Das hatte ihm aber zu lange gedauert und er war schon wieder fuchsteufelswild. Zu Hause angekommen, ging er sofort ins Bett. Mein Bruder saß vor seiner Tür und stand Wache..
Bereits am nächsten Tag eskalierte es wieder und Papa schlug das Schlafzimmer zu Brennholz. Daraufhin haben wir gemeinsam mit den Ärzten entschieden, Papa sedieren zu lassen. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zu Hause sterben zu lassen. Er hat uns immer gesagt, er wolle nicht leiden, nicht vor sich hin vegetieren. Anfangs sollte er schlafen, wieder aufwachen, was essen und trinken und wieder schlafen. Das ging aber keine 4 Stunden gut. Sobald er die Augen aufschlug ging die Schimpftirade wieder los und versuchte er jeden zu schlagen. Also wurde der Schlaf vertieft...
Mein starker, ansonst so gesunder Vater hat es 7 Tage ohne Essen und Trinken ausgehalten. Mama und wir 3 Kinder waren die ganze Zeit bei ihm. Haben den Schwestern bei der Pflege geholfen, haben ihm gestreichelt, mit ihm geredet, geweint und ja, auch gescherzt. Er hätte es nicht gewollt, dass wir nur Trübsal blasen. Wir waren bei ihm als er starb, haben ihn anschließend selbst versorgt und angezogen. Er wurde zu Hause im Bett aufgebahrt. Er wäre noch so gerne einmal nach Frankreich gefahren bevor er starb. Das hat leider nicht mehr geklappt aber wir haben die Trauerfeier in französischem Stil gehalten, inkl. Käse und einer Flasche mit seinem Lieblingswein auf dem Sarg. Wir sind uns sicher, dass er sehr zufrieden war. Denn als die letzten Töne des Meeresrauschen verklangen, fiel eine seiner Lieblingsblume aus dem Strauß direkt vor unsere Füße. Als wäre es ein letzter Gruß....
Seitdem geht es uns Kindern einigermaßen gut. Die gemeinsame letzte Zeit mit Papa hat uns viel Kraft gegeben, für die Zeit danach. Ich fühle es, dass Papa glücklich ist, das es gut ist so. Mein Bruderherz erzählte letzte Woche, dass er Papa wird. Ein Leben geht, ein neues Leben kommt....
Für die Mama ist es aber viel schwerer. Wir haben unsere eigenen Familien, der Alltag geht weiter und da wir eh alle weit weg wohnen, fand der Alltag immer schon ohne den Papa statt. Aber Mama ist alleine, kommt immer ins leere Haus. Nach der ersten Erleichterung, dass das Drama ein Ende hat (da ging es ihr wirklich gut) kommen jetzt die Zweifel und die Vorwürfe. Sie hat ihn alleine gelassen als das Todesurteil kam. Sie hat es zugelassen, dass er einige Tage in der Psychiatrie war. Er hat sie die letzten Wochen so schlecht behandelt. Betrunkene Menschen sagen ja auch die Wahrheit. Hat Papa sie je geliebt? Mit diesen Fragen und Vorwürfen quält sie sich. Es tut ihr so weh, dass es keine zeit zum bewussten Abschiednehmen gegeben hat. Dass sie auf dieser Weiseauseinander gehen mussten.....
Wir tun was wir können um ihr das auszureden, bringen Beispiele vom Gegenteil an. Aber der einzige, der ihr sagen könnte, wie es wirklich war, gibt es nicht mehr...
Ich habe euch ganz schön zugetextet. Das tut mir leid. Ich wollte mich eigentlich kurzfassen aber es kam plötzlich alles raus...
Was ich eigentlich fragen wollte: gibt es Leute, die eine ähnliche Situaiton erlebt haben oder erleben? So eine extreme Persönlichkeitsveränderung gibt es wohl nur sehr selten. Den Neurologen plagt ein ganz schlechtes Gewissen, dass sie die Situation so unterschätzt haben. Sie entschuldigen sich damit, dass sie so etwas in der Form noch nie erlebt haben.
Wie können wir unserer Mutter helfen? Sie will keine Gespräche beim Therapeuten. Sie sagt, die können ihr die Antwort auch nicht geben. Vielleicht hilft es ihr wenn sie sich mit Leuten unterhalten kann, die ähnliches erlebt haben.
Ich würde mich über einen Austausch freuen!!
Liebe Grüße
Monique