Guten Morgen,
Im November 2020 erhielt ich die Diagnose, dass sich in meinem Rückenmark ein intramedullärer Tumor befindet.
Leider fand ich nur überwiegend ältere und sehr erschreckende Erfahrungsberichte, sodass ich nun die Gelegenheit nutzen möchte, anderen Betroffenen Mut zu machen.
Im Herbst 2020 fing es an. Ich hatte sowieso schon jahrelang oft Migräne, aber diesmal waren die Kopfschmerzen irgendwie anders. Sie waren intensiver und fühlten sich an wie Messerstiche im Kopf. Zudem waren sie oftmals tagelang.
Hinzu kam ein Taubheitsgefühl im linken kleinen Finger. Manchmal war sogar die ganze Hand taub.
Beim Laufen brach plötzlich mein linkes Bein unkontrolliert weg. Meine Konzentrationsfähigkeit war eingeschränkt. Hinzu kamen Nackenschmerzen.
Der Hausarzt vermutete ein HWS Syndrom und überwies zum Neurochirurgen, der sofort ein MRT angeordnet hat.
Einige Tage später kam ich mit der CD in seine Praxis. Er schaute auf die Bilder und ich sah an seinem Blick, dass irgendwas nicht stimmt.
Er erklärte mir, dass sich in meinem Rückenmark ein 2cm großer Tumor zwischen C5 und C6 befindet.
Die Diagnose war ein absoluter Schock! Ich bin 32, stehe mitten im Leben, war nie lange krank und hatte auf einmal das schlimmste vor Augen.
Der Neurochirurg hat versucht, mich zu beruhigen, doch alles was er sagte, hat mich nur noch mehr aufgeregt. Er klärte mich ausführlich auf, zwar auch mit allen Heilungschancen, aber auch allen Risiken. Von Lähmung, Querschnitt und Inkontinenz war plötzlich die Rede.
Er empfahl mir einen Spezialisten in Duisburg und organisierte für mich dort einen Termin.
Die nächsten Tage waren der Horror. Ich informierte mich über Google und las Überlebenschancen von 50%, Lebenserwartungen von 2 Jahren oder Blogartikel von Betroffenen, die nun im Rollstuhl sitzen. Ich fand Forenbeiträge, in denen Verfasser plötzlich nicht mehr antworteten und der letzte Post von einem Admin war, der mitteilte, dass die Verfasserin zwischenzeitlich verstorben war.
Ich fiel in ein tiefes Loch irgendwo zwischen Hilflosigkeit, Depression und Suizidgedanken.
Als endlich der Termin beim Spezialisten anstand, hoffte ich, dass der Tumor nur ein dreckiger Fleck auf dem MRT gewesen wäre...
Doch stattdessen holte mich die Realität wieder ein. Der Doc bestätigte den Tumor.
Es gab 2 Möglichkeiten:
Da der Tumor nur 2cm groß war, könnte man abwarten und regelmäßige MRTs machen. Es könnte aber sein, dass der Tumor plötzlich wächst und dann eine OP kompliziert macht. Ausserdem waren Taubheitsgefühle ja schon vorhanden, es könnte sein, dass es sich verschlimmert und ich von heute auf morgen Lähmungen bekomme.
Der Doc riet allerdings zur sofortigen OP. Doch hierzu müssen erst die Halswirbel gebrochen werden, anschließend die Nervenbänder durchtrennt und das Rückenmark aufgeschnitten werden. Dass es dadurch zu weiteren Taubheitsgefühlen kommen wird, ist klar. Doch der Umfang ist ungewiss. Es könnte sein, dass nach der OP nur der kleine Finger taub ist, es könnte aber auch sein, dass ich meine Beine nicht mehr spüre und von heute auf morgen auf Pflege angewiesen wäre und im Rollstuhl säße.
Die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Wenn man gerade 32 ist, möchte man sich nicht über sowas Gedanken machen.
Dennoch fühlte ich mich bei dem Spezialisten sehr wohl. Er nahm sich unglaublich viel Zeit um meine Fragen zu beantworten. Er war sehr erfahren auf dem Gebiet und machte mir Hoffnung, dass der Tumor leicht entfernbar aussieht und ich nach einer Reha schnell zurück in den Alltag finden könnte.
Ich entschied mich für die OP. Eine Woche später war es bereits soweit.
Die OP dauerte 4 Stunden. Als ich wach wurde, wurden meine schlimmsten Befürchtungen wahr. Ich konnte mein linkes Bein nicht mehr spüren und brach sofort in Panik aus.
Die Ärzte kamen an mein Bett und führten ein paar Bewegungsübungen durch. "Ziehen Sie mal das Bein an!", doch es ging nicht. Ich weinte und zitterte, als der Arzt plötzlich "prima, na geht doch!" sagte. Ich war irritiert. Ich habe doch gar nichts gespürt?!
Anscheinend war mein Bein noch da, aber bloß taub. Es funktioniert, ich spüre es bloß nicht.
Am nächsten Tag wurde ich erneut untersucht. Ich war linksseitig komplett taub (Fuß, Bein, Intimbereich, Gesäß, Bauch, Arm, Hand, Schulter). Für mich der absolute Alptraum! Ich befürchtete, nie mehr laufen zu können und Pflege zu benötigen.
Doch die Ärzte ermutigten mich und nachdem ich mich alleine auf die Bettkante setzen konnte, sollte ich ein paar Schritte durch das Zimmer laufen.
Aber wie sollte ich laufen, wenn ich mein Bein und Fuß nicht spüre?! Ich spüre nicht, ob ich auftrete oder mein Fuß noch in der Luft hängt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das klappen sollte.
Aber es funktioniert. Ich konnte laufen.
Von da an bin ich jeden Tag meine Runden durchs Zimmer gelaufen.
Der Toilettengang war etwas schwierig, denn dadurch, dass alles taub ist, spüre ich nicht, "wann es soweit ist". Die ersten 3 Tage könnte man es als Inkontinenz bezeichnen. Doch danach hatte ich das Gefühl, dass ich leichten Druck auf der Blase spüre. Manchmal kamen zwar nur 3 Tröpfchen raus, obwohl es sich anfühlte, als würde meine Blase gleich platzen.
Auch andere Toilettenaktivitäten waren zunächst gewöhnungsbedürftig, denn wenn man seinen Popo und Bauch nicht mehr spürt, kann man auch nicht pressen.
Nach 6 Tagen KH wurde ich entlassen.
Um den Hals muss ich 4 Wochen eine Halskrause tragen.
Ich lebe alleine und war heilfroh, dass es mir nach 6 Tagen bereits so gut ging, dass ich auf keine Hilfe angewiesen war.
Ich kann mich alleine duschen, kann essen zubereiten, mich selbständig anziehen und nach weiteren Tagen der Schonung konnte ich sogar alleine die Wohnung putzen.
Insgesamt 2 Wochen nach der OP fing ich wieder an, vom Home Office aus stundenweise zu arbeiten.
Jeden Tag machte ich einen Spaziergang, die erste Zeit noch etwas wackelig und unsicher, doch dann konnte ich ganz normal laufen. Zwar spüre ich nicht, wo ich hintrete und muss daher bei nassem Untergrund sehr aufpassen, dass ich nicht ausrutsche, aber ich komme gut zurecht.
Lediglich ans Autofahren ist derzeit nicht zu denken. Ich spüre die Kupplung nicht, kann sie dadurch nicht "kommen lassen" und trete sogar manchmal daneben.
Die Taubheitsgefühle sind nur noch zur Hälfte da. Mittlerweile ist wieder Leben im Arm, der Hand, der Brust und der Schulter. Auch motorisch habe ich keine Probleme.
Der Toilettengang funktioniert mittlerweile auch ganz gut, zwar nicht so wie gewohnt, aber es kommt alles raus, was raus muss und ich spüre rechtzeitig, wenn es soweit ist.
Mein Bein kribbelt oftmals, was ein gutes Zeichen ist.
Jeden Tag mache ich ein paar Übungen mit Fitnessbändern oder ziehe den Fuß an, Kreise ihn, usw.
Eine Reha brauche ich nicht. Physio auch nicht, da ich selbst genug in Bewegung bin.
Ab nächster Woche arbeite ich wieder voll (3 Wochen nach OP), ich weiß zwar noch nicht, wie ich ins Büro komme (Straßenbahn ist zu Fuß zu weit weg und autofahren klappt noch nicht), aber darüber mache ich mir dann nächste Woche Gedanken.
Da es ein Tumor 2. Grades war, wird grundsätzlich eine Strahlentherapie empfohlen. Mein Tumor ist aber vollständig entfernt worden und eine Bestrahlung im Rückenmark schädigt weitere Zellen und Nerven, sodass mein Arzt entschied, dass wir erstmal alle 2 Monate ein Kontroll MRT machen.
Eine schlimme Diagnose steht eventuell noch aus, denn der Arzt empfiehlt auch ein MRT der gesamten Wirbelsäule plus Schädel, um ausschließen zu können, dass es eventuell noch einen Tumor gibt. Ein Ependymom kämen selten alleine.
Doch bisher bin ich sehr zufrieden und überaus dankbar, glimpflich davon gekommen zu sein.
Natürlich möchte ich den Tumor nicht herunter spielen. Aber als ich meine Diagnose erhalten und anschließend online informiert habe, habe ich ausschließlich negative Berichte gelesen, in denen es den Patienten deutlich schlechter ging als mir. Wenn mein Beitrag zukünftig Patienten Mut machen kann, dass man auch glimpflich aus der Nummer kommen könnte, freut es mich sehr