Liebe Mikli,
ich weiß, dass es sehr furchtbar für Dich sein muss, dass Du weißt, wie schwer und vermutlich lebensbedrohlich krank Dein Mann und Vater Deiner/seiner Tochter ist und dass er Dich nicht informieren will.
Oder nicht kann.
Ich habe das Gefühl, dass er dadurch, dass er Dich vor 8 Monaten schonen wollte und Dir nichts sagte, zu lange mit dieser Diagnose gelebt hat, bevor er sich zu irgendeiner Therapie bereitgefunden hat.
Für ihn war es einerseits eine erschreckende Diagnose, mit der er andererseits Euch nicht erschrecken, nicht weh tun wollte.
Und dann ging es ihm ja zunächst auch gut. Die Angst vor den Konsequenzen, die ihm von dem Arzt, der die Diagnose gestellt hat, bestimmt aufgezeigt wurden, war wahrscheinlich ziemlich groß. Operieren? Welche Folgen kann das haben? Bestrahlung? Im Gehirn? Das kann doch nicht gut gehen! Chemotherapie? Nein, Medikamente, die mir die Haare ausfallen lassen und mich erst richtig krank machen, das will ich nicht.
Da war er vielleicht innerlich ein wenig froh darüber, dass er Dich und Deine OP als Ausrede für sich hatte.
Je länger es gut ging, um so mehr verdrängte er das Thema.
Bis es eben nicht mehr gut ging!
Und nun ordnet er einerseits seine und Deine und die Sachen der Tochter für sein Weggehen. Er will sich Euch nicht stellen. Oder doch. Aber vor allem will er sich dem Tumor nicht stellen.
Andererseits aber braucht er Euch. Täglich kommt er zu Dir, erzählt von sich, verbietet Dir aber zu helfen.
Beim Ordnen der Sachen hat er vielleicht nicht bedacht, wie schwer es für Dich und Euer Mädchen ist, allein klarzukommen. Wie viel schwerer es für Euch ist, zu wissen, dass er Euch verlässt, obwohl er Euch dringender braucht als je zuvor.
Ich glaube, das ist vielleicht diese männliche Art, der Starke sein zu müssen, Euch in Schutz nehmen zu müssen. Und nun ist er es, der diesen Schutz braucht, weil er krank und schwach ist. Er kann vermutlich diesbezüglich nicht aus seiner Haut. Er ist sich dessen bewusst, dass er Euch braucht, will aber nicht schwach erscheinen, auch wenn er schwach ist.
Deshalb arbeitet er, feiert Partys, lebt wie immer, geht sogar auch zu seiner Familie, schafft sich seine Normalität.
Aber nicht Deine!
Ich denke, dass er sich dieses Widerspruchs bewusst ist, ihn aber selbst nicht lösen kann. Oder nicht lösen will.
An Deiner Stelle würde ich es versuchen, ihm zu sagen, dass Ihr Euch einmal versprochen habt, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzuhalten.
Ich würde ihm sagen, dass es schlimmer ist, nichts von seiner Krankheit zu wissen, als sie zu kennen. Du musst doch wissen, was ihn und Dich erwartet! Er kann doch nicht glauben, dass er mit seinem Ausziehen aus Eurer Wohnung auch die Krankheit aus ihr entfernt hat. Er hat Euch die Sorgen dagelassen, um ihn und den Tumor und den Alltag Eurer kleinen "Restfamilie". Es ist nicht allein sein Problem!
Und ich würde ihn dazu drängen, Dir zu sagen, welche Therapiemöglichkeiten bestehen und ihn ernsthaft dazu bewegen, diese so schnell wie möglich wahrzunehmen. Oder Dir klar zu sagen, dass er sich aufgegeben hat.
Vielleicht braucht er eine wirklich starke, deutliche Reaktion von Dir, die ihn aufweckt, ihn zum Kampf gegen den Tumor bewegt.
Denn operabel scheint der Tumor zu sein, wenn das stimmt, was er Dir über dessen Lage gesagt hat. Die Symptome, die Dein Mann aufweist, können durchaus von einem Größenwachstum des Tumors herrühren. Es kommen aber ursächlich für die Schlafstörungen vermutlich auch psychische Faktoren hinzu. Dein Mann ist derart psychisch überlastet, dass er sogar Entscheidungen trifft, deren Folgen er weder für sich noch für die ihm Nahen (für Euch und die Kollegen) einschätzen kann oder will. Ich bin aber ziemlich sicher, dass er keine psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Hier könnte er einer völlig neutralen Person seine Sorgen anvertrauen.
Ich denke eigentlich, dass er einen kräftigen Tritt, äh, Anschub benötigt, um sein Leben nicht am nahen Ende zu wähnen. Um seiner Verantwortung für sein Leben bewusst zu werden. Er hat nicht das Recht, sich einfach der Krankheit zu ergeben und sich aus dem Leben zu stehlen! Dazu ist das Leben zu wertvoll! Seins und Deins und das seiner Tochter, die er Dir einfach so überhelfen will. (Natürlich steht außer Frage, dass Du es gern tust, aber er macht es sich ein bisschen einfach, eben mal auszuziehen.)
Vielleicht bin ich auch völlig ungerecht. Dann nimm es mir bitte nicht übel.
Aber gerade in Krankheitssituationen sind Männer oft die Schwächeren, nicht weil sie es so wollen, sondern es ist evolutionsbedingt so. Die Frau wird dringend für die Erziehung der nächsten Generation gebraucht. Der Mann muss sie versorgen, schützen. Wenn er krank ist, ist er dazu nicht mehr in der Lage, wird also nicht mehr gebraucht.
Der kranke Löwe geht vom Rudel weg zum Sterben, er will dem Rudel nicht zur Last fallen, denn es ist schwer genug, die Jungen und deren Mütter zu versorgen und zu schützen.
Das steckt in den menschlichen Männern auch so drin. Aber sie sind nicht bei jeder Krankheit - und sei es ein Hirntumor - gleich eine Last für ihr Rudel, ihre Familie. Sie müssen nicht zum Sterben ihr Rudel, ihre Familie verlassen. Sie haben derart viele Möglichkeiten, mit der modernen Medizin ihr Leben lebenswert zu erhalten oder den Tumor sogar zu vernichten, dass sie es tun sollten! Es ist verdammt unfair, es nicht zu versuchen, am Leben zu bleiben - für Euch, für seine Arbeit, für sich selbst.
Jetzt musst Du erstmal die Starke sein! Und Deine Tochter! (Wie alt ist sie eigentlich?)
Kämpfe um ihn, für ihn und damit für Euch drei!
Und lass Dir noch einmal auch von mir gesagt sein: Hier bist Du nicht allein! Schreib, was Dich bewegt! Unbedingt!
Vielleicht bekommst Du Deinen Mann dazu, auch hier zu lesen?
Oder den Arbeitskollegen? (Per Brief oder Zettel im Briefkasten ...)
Alles Gute!!
KaSy