Liebe Nadine,
Du stehst fast noch am Anfang eines, wie Du schon extrem bemerken musstest, sehr schweren Weges.
Du hast aber auch eine lebensgefährliche Krankheit, die die Ärzte, wenn auch nicht gleich, aber immerhin rechtzeitig bemerkt und darauf so bald wie möglich richtig reagiert haben.
Du hättest viel schlimmere Folgen haben können, aber es ist genau "nur" das eingetreten, was Dir vorher gesagt wurde.
Ja, Du fühlst Dich schrecklich und keiner hier will Dir das ausreden, ich schon gar nicht.
Aber die Sicht auf diese verdammte Krankheit kann sich bei Dir vielleicht etwas ändern.
Du wirst Weihnachten nicht mit Deinem Sohn verleben. Das ist schrecklich.
Aber es ist nicht so schrecklich wie gar kein Weihnachten mehr erleben zu können oder so sehr geschädigt zu sein, dass Du dieses Fest nicht wahrnehmen würdest.
Du wirst einige Monate später die Jugendweihe Deines Sohnes feiern!
Das verdankst Du der enormen Mühe der Ärzte und der aufopfernden Sorge all der medizinischen Helfer, die Dir das Leben und ein großes Stück Gesundheit erhalten haben.
Nun bist Du dran und hast die Aufgabe, wieder ins Leben zurückzufinden, langsam, aber vorwärts.
Als ich meine Erstdiagnose (Meningeom) erhielt, stand die Jugendweihe meines Sohnes bevor. Die OP wurde als nicht so dringend eingestuft und ich hatte zwei Monate Zeit bis dahin. Der Horror! In dieser Zeit hatten wir (5 Muttis für 4 Klassen) nach dem Jugendweihe-Veranstaltungsjahr auch den Höhepunkt Jugendweihe organisiert und gefeiert. Bei mir mit den panischen Angst-Gedanken, was wird danach sein, nach der OP, die das Persönlichkeitszentrum betreffen würde. Ich hatte solche Angst und verstand das alles nicht und die Kinder ... ich hatte Angst um mein Leben, das plötzlich vorbei sein könnte ...
Meine Kinder sind erwachsen geworden, ich habe noch weitere Meningeom-OP und Bestrahlungen überstanden und immer wieder angefangen, immer wieder. Und immer wieder war es schwer. Und immer wieder glaubte ich, es nicht zu schaffen, immer wieder fing ich trotzdem wieder an, zweifelte, suchte Hoffnung, fand kleine Aufmunterungen, die das LEBEN lohnten.
Damals (vor 20 Jahren) waren meine Kinder DIE Motivation für meinen Lebenswillen. Heute (seit 3 Jahren darf ich nicht mehr arbeiten) muss ich neue Wege suchen. Es wird nicht einfacher. Und doch schafft man es immer wieder und - IST STOLZ AUF SICH !
Auch Deine Kinder werden stolz auf Dich sein!
Und sie werden Dich in der Schule vehement verteidigen und werden keinesfalls auf Dir sitzen lassen, dass Du eine Trinkerin seist.
(Sprich darüber unbedingt mit den Lehrern, die müssen das den Kindern erklären, falls sich diese böse Behauptung bei den Kindern hält. Natürlich muss Dein Sohn ein solches Gespräch auch wollen.)
Nutz die Reha als Chance. Du MUSST nicht, Du DARFST in die Reha! Nimm alles wahr, was Dir helfen kann! Wenn Dir eine Verlängerung angeboten wird, nimm sie an!
Ich wollte damals gar nicht in die Reha, weil ich ja niemanden für meine 3 Kinder hatte. Ich bin meinem Vater unendlich dankbar, dass er einfach entschied - natürlich fährst Du.
Später musste ich erleben, dass ich ein Jahr auf eine Reha warten musste, weil der Arzt sie nicht gleich beantragt hatte. Und vor drei Jahren wurde sie nach der OP zweier Meningeome und einer 6-wöchigen Bestrahlung sogar abgelehnt und ich musste in diesem Zustand kämpfen, um drei Monate später doch noch fahren zu dürfen. Diese Begleitumstände haben die Genesung erschwert und zudem meine Psyche sehr sehr belastet.
Dir geht es sehr schlecht. Aber es wird Dir nach und nach ein klein wenig besser gehen.
Du wirst nach der Reha zu Hause sein.
Ich habe damals die Monate, die ich krank geschrieben war, genutzt, um mich ein wenig mehr meinen Kindern zu widmen.
Jede noch so große Katastrophe hat irgendwo ein Zipfelchen GUTES, das Du sehen, ergreifen, herausziehen und festhalten musst.
DU gestaltest DEIN LEBEN.
Du bist stark genug dafür. (Auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt.)
KaSy