Hallo,
hab mich fast sieben Jahre davor gedrückt, hier mal meine Geschichte zu erzählen. Das soll aber nicht heißen, dass ich das Forum doof finde oder so. Ganz im Gegenteil. Das Forum ist toll! Und ich hab auch schon oft hier drin gelesen. Es hat mir sehr geholfen. Man fühlt sich im Alltag so allein damit. Als wär man der einzige mit einem Hirntumor. Niemand, der/die versteht, wie das ist. Und hier merkt man dann: Ne, alleine bist du nicht. Es gibt noch ganz viele andere, die was ähnliches durchmachen. Oder was anderes schreckliches. Und es gibt Kraft. Zu sehen, wie andere damit umgehen. Mit welcher Energie sie trotz solch einem schweren Schicksal immer weiter gehen. Auch mal dran verzweifeln. Zu sehen, dass es nicht nur mir so geht. Auch das hilft. Und wer weiß? Vielleicht hilft es ja auch irgendwem. Zu sehen, wie ich damit umgehe.
Nun aber mal zu meiner Geschichte:
Januar 2009. Ich hatte ganz viele kleine Wehwechen und wollte mich mal komplett durchchecken lassen. Unter anderem hatte ich das Gefühl, ich konnte nicht mehr gut hören. Also ab zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Der hat ein paar Untersuchungen gemacht und mir dann mitgeteilt: „Mit ihrem Ohr ist alles O.K.“ Ich: „Also...ähm...das kann eigentlich nicht sein, ich kann auf dem rechten Ohr nicht mehr telefonieren...“ Er: „Doch, doch. Ales O.K.“ Ja, was soll man in so einem Moment nur sagen? Schnelle Bewegungen zu erfassen fiel mir irgendwie auch sehr schwer. Also bin ich zum Augenarzt. Der Augenarzt hat dann einen rotatorischen Nystagmus gefunden. Ja, der ist nicht so schwer zu sehen. Beide Augen drehen sich etwa um 1/4 Drehung und springen dann zurück. Mich dann zum Neurologen überwiesen. Der Neurologe schaut mich an und sagt: "Das seh ich ja aus 2 Metern Entfernung, dass da was nicht stimmt. Ab ins MRT!" und: "Ist ihnen nicht ständig schwindlig?" Nö, ist mir nicht.
MRT: Hirntumor. Ich? Natürlich weiß man, dass so was jeden treffen kann. Aber, man rechnet nicht damit, dass es einen wirklich selber erwischt. Und wenn es das dann doch tut, dann zieht es einem vollkommen den Boden unter den Füßen weg. Man fällt hin und hat das Gefühl nie wieder aufstehen zu können. Damals war ich 25, war mitten im Studium, habe abenteuerliche Umweltbildung gemacht, bin viel gereist, habe viele Aktionen mit Greenpeace gemacht...
Meine Mutter ist plötzlich da und nimmt mich in die Arme. Wir heulen uns die Seele aus dem Leib - auf der Hauptstraße - scheiß egal! Die Ärztin meinte, der Tumor ist im Hirnstamm und Kleinhirn. Er ist ein hirneigener Tumor. Wahrscheinlich ein Astrozytom. Damit sollte sie auch Recht behalten. Dann zu meiner damaligen Freundin. Wieder gemeinsam heulen. Von ihr in die Arme genommen zu werden ist so schön und jetzt genau das richtige.
Es hieß dann, es müsse alles sehr schnell gehen. Der Tumor war auch im 4. Ventrikel und die Ärzte hatten Angst, ich könnte sehr bald einschlafen und nicht mehr aufwachen. Weil ich Aspirin genommen hatte, wollten die Ärzte nicht sofort operieren. Das Blut wird dadurch verdünnt und bei Hirn-OPs ist das gefährlich. So lagen zwischen Fund und OP immerhin 10 Tage. Trotzdem eine viel zu kurze Zeit, um noch mal schnell das Leben zu genießen.
Meine Mutter nimmt die Aufnahmen mit nach Hause, zeigt sie in Neumünster einem befreundeten Radiologen. Fährt dann nach Hannover. Da gibt es das INI, das International Neurosience Institute. Und da arbeitet Prof. Samii. 71 Jahre alt. Geboren im Iran. Meinte zu mir, das ist halt eine Gabe, die er hat und es wäre unfair, sie der Welt vorzuenthalten und nicht so lange zu operieren, wie es geht. Klingt im ersten Moment ein bisschen hochgestochen. Aber irgendwo hat er ja auch recht. Dazu muss man sagen, dass viele Neurochirurgen so eine narzisstische Veranlagung haben und sich für die Crème de la Crème der Medizin halten. Andererseits, irgendwo ist das ja auch ein echt krasses Zeug, was die machen. Einfach beeindruckend.
Weiter in meine WG. Die sind mit der Nachricht sichtlich überfordert. Andererseits: Wer wär das nicht? Die nächsten zehn Tage vergehen wie im Flug. Ich sage alle Termine ab. Es gibt gutes Essen. Schwäbisch: Käsespätzle. Einmal gehen wir italienisch essen. Einmal gehen wir zum Thailänder. Scharf, aber echt lecker. Einmal koche ich marokkanisch: Süßkartoffeln, Aprikosen und Pistazien. Mmh. Und Lamm, Pflaumen und Zimt. Noch viel doller Mmh. Alles in der Tajine. Beilage: Couscous. Ungewohnt, aber sau lecker. Und natürlich viel Sex. Ich dachte einfach: „Vielleicht sterbe ich in ner Woche.“ Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wie ich darüber reden sollte. Beim Einkaufen werde ich einmal von einer guten Freundin gefragt: „Hast du Geburtstag?" "Ne, 'n Hirntumor..." Zugegeben, das war nicht sehr charmant von mir. Tut mir Leid. Wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Mein Bruder kommt extra aus Neuseeland zurückgeflogen um mich zu sehen.
Ich werde dann im INI in Hannover von Prof. Samii operiert. Mein Neurologe wollte eigentlich, dass mir nur ein Shunt eigesetzt wird. Die Ärzte im INI hatten sich leider ein bisschen mit der Tumor-Art vertan. Im Nachhinein kann ich das überhaupt nicht verstehen, weil sogar ich erkenne, dass es ein hirneigener Tumor ist. Und die anderen Ärzte sind da auch sprachlos. Prof. Samii meinte, er hätte etwa 90% rausbekommen, was einfach gelogen ist. Vielleicht hat er die Zahlen verdreht und meinte die anderen 10%, was eher realistisch ist. Trotzdem kann ich es nicht einschätzen und es kann sein, dass er technisch total super gehandelt hat und ich ihm mein Leben verdanke. Aber man muss das medizinische vom organisatorischen trennen und das war in meinem Fall einfach grotten schlecht. Aber nicht nur im INI. Das ist ja ein deutschlandweites Problem.
Was folgte waren 7 Wochen Intensivstation mit künstlichem Koma (zum Glück nur sehr kurz), hoher Querschnittssymptomatik (zum Glück auch nur sehr kurz), mechanischer Beatmung , Facialisparese, Stand- und Gangataxie, Doppelblick und noch vielem mehr. Weil ich nicht mehr schlucken konnte und sie Angst hatten, dass mir der Speichel in die Lunge läuft, bekam ich einen Luftröhrenschnitt, eine Trachealkanüle und eine Magensonde. Eine Trachealkanüle ist ein Röhrchen, im Hals, durch das man dann atmet. Eine lästige Nebenwirkung ist, dass man nicht mehr sprechen kann, weil keine Luft mehr über die Stimmbänder fließt. Andererseits kann man atmen. Ich konnte drei Monate nicht reden, dann bekam ich eine sogenannte Sprechkanüle, mit der konnte ich immerhin ein bisschen sprechen. Als ich sie das erste mal drinne hatte und nach drei Monaten wieder den ersten Laut äußern konnte, wollte ich meine damalige Freundin überraschen und beeindrucken. Ich war aber so aufgeregt, dass ich ihr nur vor die Füße gekotzt habe. Ich hab dann die nächsten drei Jahre fast täglich gekotzt. Später hat sich herausgestellt, das kam durch Hirndruck und Liquoraufstau und nach einer Entlastungs-OP von einem auf den anderen Tag vorbei. In den ersten Tagen nach der OP wurde ich so mit Medikamenten zugedröhnt, dass ich Traum und Realität nicht auseinanderhalten konnte. Hab das abgefahrendste Zeug geträumt, wusste aber nicht, ob es war oder erfunden war. Aber eigentlich hab ich auch gar nicht so richtig darüber nachgedacht. Die Ärzte waren sich immer noch nicht sicher, ob es ein Astro °II oder °III wäre und um ganz sicher zu gehen, wollten Sie die Expertenmeinung vom Tumorreferenzzentrum in Bonn. Es kam dann über Wochen keine Antwort. Ich lag mit Trachealkanüle auf der Intensivstation. Wir fragten uns, warum dauert das so lange? Brauchen die immer so lange? Dauert es so lange, ein paar lausige Zellen zu analysieren? Meine Mutter hat wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um an diese Ergebnisse zu kommen und musste diverse Tobsuchtanfälle erleiden - die Ärzte tun mir immer noch Leid. Sie hatte auch im Tumorreferenzzentrum in Bonn angerufen und höflich gefragt, warum das denn so lange dauere. Antwort: Wir haben gar kein Tumormaterial von Ihrem Sohn... Es kam dann raus, dass das Stück vom Tumor, was sie mir rausgenommen hatten, einfach im Postausgang vergessen wurde. Dazu brauche ich wohl nichts mehr zu sagen.
Ich wurde dann nach sieben Wochen von der Intensivstation in die Früh-Reha in Magdeburg verlegt und wusste immer noch nicht, was ich hatte. Im Nachhinein kann ich die Klinik nicht empfehlen. Und ich habe wirklich viele gesehen und kann sie vergleichen. Es kam raus, dass ich ein diffuses Astrozytom °II hatte/habe. In der Früh-Reha versuchte ich wieder laufen und schlucken zu lernen. Mit mäßigem Erfolg. Von Magdeburg kam ich dann in eine Schluck-Reha in Bad Heilbrunn in Bayern. Da haben sie dann die Trachealkanüle wegbekommen. Ich konnte zwar immer noch nicht schlucken, aber der Luftröhrenschnitt wurde wieder zugenäht. Das ist dann in Kiel gemacht worden.
Ich möchte hier nicht so viel über meine Krankenhausgeschichte schreiben. Man kann das so zusammenfassen: Ich habe mittlerweile eine regelrechte Krankenhausallergie, die sich darin äußert, dass ich schlechte Laune bekomme, sobald ich eins betrete.
Die Ärzte meinten, ohne die OP wäre ich in spätestens einem halben Jahr eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Man kann die Operation also wohl als lebensrettende Maßnahme bezeichnen. Andererseits hat sie mich auch ziemlich entstellt und mein Leben komplett verändert. Ich würde es trotzdem wohl jeder Zeit wieder machen, das Leben ist einfach zu schön.
Ich hatte dann etwa dreieinhalb Jahre mehr oder weniger Ruhe vor dem Tumor (Es gab natürlich das ein oder andere kleinere Tumorwachstum). Und natürlich hab ich mir vor jedem MRT vor Angst fast in die Hosen gemacht. Das kennt wohl jede/r hier. Ich hatte aber auch mehr als genug mit den Behinderungen zu tun. Und damit, dieses neue, völlig andere Leben zu führen. Im August 2012 fing der Tumor dann plötzlich ganz doll an zu wachsen und Kontrastmittel aufzunehmen. Ich habe dann ein PET-CT machen lassen und da haben sich dann meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet: Die Tumorzellen waren unglaublich aktiv. So, als würde er zum Astrozytom °III oder gleich zum Glioblastom malignisieren. Ich wurde dann wieder operiert. Diesmal aber nicht am Tumor. Der Durchgang zwischen zwei Ventrikeln war durch den Druck von der Raumforderung verschlossen und die Ärzte haben ihn wieder geöffnet.
Es folgte eine kombinierte Radiochemotherapie mit Temodal (140mg). Ich glaube, es waren 6 Wochen. 5 Werktage pro Woche. Also 30 Behandlungen. Bei jeder Sitzung 1,8 Gy. Also 54 Gy insgesamt. Und dann noch ein halbes Jahr Temodal hinterher. Im Schema 7 Tage à 140mg und dann 21 Tage Pause. Das war für mich eine furchtbare Zeit, die ich überwiegend auf dem Sofa verbrachte. Oder im Bett. Ständig schlapp und müde und ich konnte doch nicht schlafen. Konnte mir nichts mehr merken, mich nicht mehr lange konzentrieren, die Ataxie war unglaublich stark, ich bekam einen Nystagmus (Augenzittern). Und ich war so schlapp. Saß im Rollstuhl, weil das Gehen am Rolator viel zu anstrengend war. Aber auch im Rollstuhl sitzen war im Grunde viel zu anstrengend. Ich erinnere mich an eine Situation, in der meine Mutter mich um einen See geschoben hat und wir nach kurzer Zeit umdrehen mussten, weil ich nicht mehr konnte. Das war aber alles in der Zeit nach der Bestrahlung, die Strahlentherapie selber habe ich gut überstanden. Auch heute – drei Jahre danach - habe ich noch jede Menge Langzeitfolgen. Hauptsächlich die Einschränkungen, die ich auch direkt danach hatte: Die Ataxie wird stärker, das Gleichgewicht dafür schlechter. Mein Gedächtnis ist teilweise sehr schlecht. Es fällt mir schwer, manche Wörter zu finden. Ich kann keine Bücher mehr lesen, weil der Nystagmus (Augenzittern) so stark ist. Seit der Bestrahlung ist der Tumor erst kleiner geworden und dann so geblieben. Wobei niemand weiß, was davon überhaupt noch Tumorzellen sind und was Narbengewebe. Kontrastmittel ist nie wieder aufgetaucht. Ohne die Bestrahlung wäre ich wohl gestorben und ich musste einen hohen Preis für's Überleben zahlen, würd's aber jeder Zeit wieder machen.
Heute, sechs einhalb Jahre nach der Diagnose Hirntumor lässt sich sagen: Der Tumor ist immer noch da. Ich aber auch! Ich kann nicht mehr gehen, nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben, nicht mehr normal essen (Ich konnte 6 Jahre lang gar nicht essen. Jetzt kriege ich Joghurt, Pudding, Quark, Brei und solche Sachen runter), ich kann nicht mehr laut sprechen, nicht mehr singen, nicht mehr Gitarre spielen, nicht mehr reisen wie früher, meine rechte Gesichtshälfte ist gelähmt und taub, mein rechtes Auge guckt woanders hin, als das linke und auf dem rechten Ohr bin ich taub. Es gibt so unglaublich hat sich viele Dinge, die nicht mehr gehen. Und doch freue ich mich, am Leben zu sein. Mein Alltag hat sich völlig verändert. Ich habe jetzt ein Liegefahrrad mit drei Rädern, versuche mein Studium zu beenden, schreibe an meiner Diplomarbeit, gehe einmal in der Woche klettern und möchte behaupten, ich genieße das Leben so gut ich eben kann.
Sönke