Liebe Sabi,
über deine Frage musste ich erst mal eine Weile nachdenken. "Mein Schicksal annehmen", wie soll ich das definieren , um es beantworten zu können? Seine Schicksal nimmt man bei dieser Krankheit mehrfach und doch nie an.
Ich glaube, dein Schicksal hast du zu ersten Mal schon angenommen genau in dem Augenblick, als du die Diagnose mit ihrer gesamten Tragweite wirklich realisiert hast. Im ersten Augenblick reagierte der Körper (so war es jedenfalls bei uns) wie mit Schock, ich fragte den Arzt nochmal, ob ich das richtig verstanden habe und wir alle drei waren noch nicht mal in der Lage, zu weinen, wir waren nur wie gelähmt vor Entsetzen. In der Nacht haben wir wohl keine Minute geschlafen, am nächsten Tag haben wir, wenn du so willst zum ersten Mal unser Schicksal angenommen. Wir sind zu unserem Sohn gefahren, haben uns alle drei in den Arm genommen und gesagt:"Was nützt es, wenn wir uns zerfleischen und von Angst auffressen lassen? Es wird nicht das kleinste Bißchen bessern! Also werden wir unser Leben so gut es geht gemeinsam leben und jeden Tag so nehmen, wie er kommt." Wir haben unserem Sohn, der wie wahrscheinlich jeder andere große Angst vor dem Sterben und wie es sein wird hatte, versprochen, diesen Weg bis zum Ende mit ihm zu gehen. Dieses Versprechen haben wir gehalten (wir haben ihn an jedem Tag bis zu seinem Tod gesehen, wir haben ihn in den letzten drei Tagen seines Todeskampfes nicht eine Sekunde verlassen, ich habe danach mein totes Kind in den Armen gehalten und zu guter letzt die Urne selbst zu seiner Ruhestätte getragen.
Den wirlkich endgültigen Tod annehmen - was soll ich dir dazu sagen. Schlaue Bücher sprechen von verschiedenen Phasen und ich kann das bisher nur bestätigen. Am Anfang war ich nur ganz uneigennützig froh, dass er keine Angst mehr haben und nicht mehr leiden muss.
Dann fing ich langsam an, die ganze Tragweite des Verlustes zu realisieren und gleichzeitig drehen sich immer noch meine Gedanken im Kreis - ich bin unglaublich wütend, wenn ich sehe, wie Leute mutwillig ihr Leben aufs Spiel setzen und sagen:"Mir doch egal!" Mein Sohn wollte so gerne auch mit seinen unglaublichen Einschränkungen noch ein bißchen leben und durfte es nicht. Ich bin so traurig, wenn ich daran denke, welche Banalitäten wir kurz vor seiner OP noch am Telefon ausgetauscht haben - wir wussten nicht, dass wir so das letzte Mal miteineander sprechen konnten. Es bricht mir das Herz, dass ich ihn so wenig trösten konnte, da er mir seine Ängste nicht sagen konnte und ich nicht wusste, was ihn bewegt.
Und ich bin unglaublich stolz auf ihn, mit welcher Würde und mit wieviel Kraft der sich nicht hat brechen lassen von diesem Ungeheuer in seinem Kopf.
Das einzige, was hilft, ist R E D E N - schluck nur nicht deine Trauer und deine Emotionen herunter, auch wenn sie anderen Leuten unbequem sind, du erstickst sonst daran. Und nimm dir Zeit, es wird nichts ungeschehen, du wirst nichts vergessen, aber die tiefen Löcher, in die du fallen wirst, werden seltener und die Trauer wird dich irgendwann nicht mehr wie wütende Wölfe überfallen, sondern gleichmäßiger und wie ein sanfter grauer Schleier.
Liebe Grüße
Renate