Quelle: Stuttgarter Zeitung 23.11.04
Zitat: >
Starke Zweifel an der heilenden Wirkung von Vitaminen gegen Krebs Der Tod eines krebskranken Kindes und die Geschichte seiner umstrittenen Behandlung - Staatsanwaltschaft prüft Möglichkeit eines Ermittlungsverfahrens
Kürzlich ist der kleine Dominik aus dem rheinland-pfälzischen Steinebach in einer Klinik in Mexiko gestorben. Die Eltern hatten ihr Kind zuvor der schulmedizinischen Behandlung entzogen und es in die Hände des umstrittenen Mediziners Matthias Rath gegeben. Worum geht es?
Von Hartmut Wewetzer
Der neunjährige Dominik wurde seit September 2002 wegen fortgeschrittenen Knochenkrebses mit Operationen und Chemotherapie behandelt. Die Ärzte gaben ihm eine Überlebenschance von fast 50 Prozent, sofern die Behandlung fortgesetzt würde. Doch die Eltern hatten sich Matthias Rath mit seinen "Vitalstoff"-Präparaten zugewandt, einem Arzt, der von sich behauptet, mit Vitaminen und Mineralstoffen Krebs heilen zu können. Sie wollten die Therapie in der Uniklinik Münster abbrechen. Im April 2004 ging das Oberlandesgericht Koblenz nicht mehr von einem Heilerfolg aus, Dominik sollte seine letzten Monate bei seiner Familie verbringen.
Rath sah das anders. Er hatte den Jungen bereits Anfang des Jahres für seine Zwecke eingespannt und behauptete auf Plakaten mit Dominiks Foto: "Krebs ist heilbar. Natürlich." "Sein Leben ist bereits jetzt zu einem Symbol für eine neue Ära der Medizin geworden", stilisierte er den tragischen Fall hoch. Und er legte sich noch weiter fest. Im April 2004 "konnte Dominik als von seinem Krebsleiden geheilt bezeichnet werden", heißt es auf seiner Internetseite. Später muss das Kind wegen Hirnmetastasen des Tumors behandelt werden - Rath spricht dagegen von einem Bluterguss. Die von den Ärzten festgestellte Krebsgeschwulst in der Lunge deutet er ebenfalls als "riesigen Blutklumpen".
Wer aber ist Matthias Rath eigentlich? Die Geschichte beginnt mit Linus Pauling, einem berühmten Chemiker. Paulings Wort zählte in Amerika. Und so erregte er gewaltiges Aufsehen, als er 1968 mit einer Art universaler Gesundheitsformel an die Öffentlichkeit trat. Pauling glaubte, mit hohen Dosen von Vitaminen und Mineralstoffen etlichen Krankheiten vorbeugen oder diese sogar heilen zu können. Sein Buch über Vitamin C und Schnupfen wurde zum Bestseller. Er behauptete, dass die tägliche Einnahme von bis zu mehreren Gramm des Vitamins die Gefahr von Erkältungen drastisch verringern oder ihren Ausbruch verhindern könne. Millionen Amerikaner stürmten die Vitaminvorräte der Apotheken. 1979 spekulierte Pauling sogar, mit Vitamin C Krebs heilen zu können. Rath wurde Anfang der 90er Jahre für kurze Zeit Paulings Mitarbeiter. Schon 1992 trennten sich ihre Wege wieder. Pauling starb 1994 an Krebs, und Rath sieht sich heute als seinen Nachfolger.
Gefäßverkalkung, Herzinfarkt und Schlaganfall seien auf einen Mangel an Vitamin C in den Gefäßwänden zurückzuführen, behauptet Rath. Vitaminmangel sei auch die Hauptursache von Bluthochdruck, Herzpumpschwäche und weiteren Kreislaufleiden. Krebswachstum sei durch die Aminosäure Lysin und weitere natürliche Substanzen zu verhindern. Vitamin und andere "Bioenergie-Moleküle" würden Vorbeugung, Behandlung und "Ausmerzung" (Rath) der häufigsten Krankheiten ermöglichen.
Vitamine als Allheilmittel? Bei Medizinern und Ernährungsexperten stößt das auf Skepsis. Denn wissenschaftliche Untersuchungen konnten die Behauptungen nicht bestätigen. Zum Beispiel Vitamin C und Schnupfen: Linus Paulings Annahmen führten zu gewissenhaften Untersuchungen. Dabei ergaben 16 umfangreiche Studien, dass Vitamin C Erkältungen nicht verhindern und bestenfalls Symptome ein wenig mildern kann. Zum Beispiel Krebs: Die amerikanische Mayo-Klinik in Rochester überprüfte in drei Studien die Behauptung, dass große Mengen Vitamin C gegen Krebs helfen. Das Ergebnis fiel eindeutig negativ aus. Vitamin C schnitt nicht besser als ein Scheinmedikament ab. "Mit Vitaminen kann man Krebs nicht behandeln", fasst Jakob Linseisen vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg den Forschungsstand zusammen, "sondern allenfalls einen Mangel ausgleichen". Und bei der Krebsvorbeugung setzt Linseisen auf Obst und Gemüse, nicht auf Vitaminpillen.
Raths Behauptungen stehen also in Widerspruch zu dem, was bewiesen ist. Welche Belege führt er dagegen ins Feld? Raths Liste wissenschaftlicher Veröffentlichungen umfasst nur wenige Studien, die sich tatsächlich mit der Wirkung von Vitaminen oder Aminosäuren befassen. Meist sind es rein experimentelle Versuche an Zellkulturen. Sucht man nach Raths Veröffentlichungen in der medizinischen Datenbank Pubmed - sie verzeichnet 15 Millionen Publikationen aus dem Bereich der medizinischen Forschung -, so fällt das Ergebnis noch dünner aus. Die letzte Studie, an der Rath laut Pubmed beteiligt war, ist aus dem Jahr 1991 und stammt noch aus dem Labor der Biochemikerin Ulrike Beisiegel von der Uni Hamburg, bei der Rath nach seinem Examen promovierte.
Versuche an Patienten, die stichhaltig wären, kann Rath nicht vorweisen. Allerdings veröffentlichte er 1996 eine Untersuchung an 55 Patienten im "Journal of Applied Nutrition", einer von der Nahrungsmittelindustrie finanzierten Zeitschrift. Ergebnis der Studie laut Rath: durch Einnahme von Vitaminen, Mineralstoffen und Aminosäuren lasse sich das Fortschreiten von Gefäßverkalkung (Arteriosklerose) der Herzkranzgefäße verlangsamen. Eine unabhängige Bewertung der Studie ergab erhebliche Mängel: "Grundlegende Fehler in Planung und Auswertung . . . machen die Studie wertlos." Zu diesem Ergebnis kommt Christian Steffen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Die Studie sei nicht geeignet, die Behauptung zu stützen, dass eine Vitamin-Mineralstoff-Kombination aus dem Hause Rath namens Vitacor ein "Fortschreiten der Verkalkung der Herzkranzgefäße verlangsamen oder gar verhindern kann". Zu einem ähnlichen Urteil kommt die Krebsliga Schweiz: Es gebe "keinen Beweis dafür, dass die von Matthias Rath verkauften, teilweise hoch dosierten und teuren Präparate der Krebsvorbeugung dienen, geschweige eine Heilung bei Krebs bewirken". Auch der Nachweis der Unbedenklichkeit fehle; man rate deshalb von den Präparaten ab.
Und was ist mit den Patienten, die angeblich geheilt wurden und die Rath bei seinen Vorträgen und im Internet präsentiert? Die Aussagekraft solcher Einzelfälle ist stark begrenzt, kritisiert der Arzneimittelforscher Steffen. "Jeder Wunderheiler kann kurierte Patienten vorweisen - aber solche Fälle sind wissenschaftlich nicht stichhaltig, weil Suggestion und spontane Selbstheilung hier eine große Rolle spielen." Um solide Aussagen darüber zu bekommen, ob eine Heilmethode wirkt, muss eine größere Zahl von Patienten behandelt werden. Idealerweise bekommt eine gleich große Gruppe ein Scheinmedikament (Placebo). Wenn weder der Patient noch der Arzt weiß, wer das "echte" Mittel einnimmt, spricht man von einer "doppelblinden" Studie. Sie ermöglicht objektive Aussagen darüber, ob ein Medikament wirkt.
Erst wenn das echte Medikament deutlich besser abschneidet, liegt ein objektivierbarer Wirksamkeitsnachweis vor - und ein Anlass für die Behörden, ein neues Mittel zuzulassen. Solche Untersuchungen hat Rath aber nie vorgelegt. In Deutschland sind seine hoch dosierten Vitaminpräparate deshalb nicht zugelassen. Doch auch nach Dominiks Tod bleibt Rath dabei: Das Kind habe keinen Krebs mehr gehabt, sondern sei an einem "Bluterguss im Brustraum" gestorben.<
23.11.2004 - aktualisiert: 23.11.2004, 06:18 Uhr
URL dieser Druckversion:
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/835063Original-Artikel:
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/835063